Zur Person: Dr. Ruth Karola Westheimer gilt als berühmteste Sexualtherapeutin der USA. Sie ist Autorin zahlreicher Ratgeber zum Thema Liebe und Sex und lehrte an renommierten Universitäten wie Yale, Harvard oder Princeton. 1928 geboren wuchs Westheimer als Tochter jüdisch-orthodoxer Eltern in Frankfurt am Main auf, bevor sie als Zehnjährige Deutschland mit einem Kindertransport in die Schweiz verließ. Ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet. 1945 emigrierte sie nach Palästina, wo sie später im israelischen Unabhängigkeitskrieg kämpfte. Sie studierte Psychologie in Paris und Soziologie und Sexualwissenschaft in den USA. Ab 1980 wurde "Dr. Ruth" einem Millionenpublikum bekannt durch die Radiosendung "Sexually Speaking", in der sie Anrufern Ratschäge erteilte und durch ihre Bücher, darunter "Sex for Dummies" und "Mythen der Liebe". Dr. Ruth Westheimer wurde 1994 mit der Magnus-Hirschfeld-Medaille für ihre Verdienste um die sexuelle Aufklärung ausgezeichnet.
"Sex ist keine Sünde, sondern Obligation"
Ruth Westheimer ist eine der prominentesten Sexualberaterinnen der Welt. Sie lobt jüdische Sexualvorschriften als lustfördernd und plädiert auch mit 88 Jahren weiter für einen freudvollen und neugierigen Umgang mit Sexualität.
Anders als im Christentum ist Sexualität im Judentum nicht nur nicht verpönt, sondern ein göttliches Gebot. In wichtigen jüdischen Schriften gibt es sogar ganz klare Anweisungen zum Sex und zu seiner Häufigkeit. Wenn ein jüdisches Ehepaar am Freitagabend, zum Sabbat-Beginn miteinander schläft, erfülle es damit eine der 613 Vorschriften der jüdischen Weisen, und die Weisen geben außerdem den Tipp, der Mann solle auch für seinen Gattin rezitieren. All das entdeckt die deutsch-amerikanische Sexualtherapeutin und Sachbuchautorin Ruth Westheimer in der Religion. Allerdings gebe es auch im Judentum klare Reglementierungen für Sex, betont sie. Der jüdische Gemeindetag in Berlin hat Westheimer in diesen Tagen als Gastrednerin eingeladen. Die 88-Jährige spricht dort über das Thema jüdische Tradition und jüdische Sexualität. Im Deutschlandradio-Kultur-Interview plädiert Westheimer für eine nicht nachlassende Forschungslust über Sexualität. Und sie betont dabei auch ein klares Ziel für diese Forschung: Sexualität voller Freude.
Die Wissenschaftlerin legt Wert darauf, das Judentum als sinnenfrohe und sogar lustbetonte Religion in Erinnerung zu rufen und sie plädiert für einen freudvollen und neugierigen Umgang mit Sexualität.
"Ich sage nur, dass die Glücklichen besseren Sex haben. Ich sage nie, dass jüdische Leute besseren Sex haben. Ich sage nur, dass ich als Sexualtherapeutin und -erzieherin so offen sprechen kann, weil ich sehr jüdisch bin", erläutere Westheimer im Interview mit Deutschlandradio Kultur. Glückliche Menschen, egal welcher Glaubensrichtung, hätten besseren Sex.
Einen Grund dafür, dass Sie persönlich mit der Thematisierung von Sexualität so wenig Probleme habe, sieht die 88-Jährige darin, dass "im Judentum Sexualität nie ein Sünde war, sondern eine Obligation."
Was die Rolle der Sexualität im Judentum durchaus von anderen Religionen unterscheide, sei auch, "dass es eine Obligation des Ehemannes gibt, seine Frau zu befriedigen,"führte die prominente Sexualaufklärerin und Sachbuchautorin weiter aus.
Gebote für ein glückliches Sex-Leben
Die sehr konkreten Regeln in jüdischen Schriften und Traditionen zielten – immer mit Blick auf die Sexualität Verheirateter – auf Freude an der Sexualität. Als Beispiel erläuterte Westheimer den Ratschlag, ein Ehemann solle zum Auftakt des Wochenendes vor dem Geschlechtsakt für seine Frau aus einem bestimmten Gebet rezitieren: "In der letzten Zeile sagt der Ehemann, dass sie die Beste auf der Welt ist. Und das habe ich so interpretiert, dass es wichtig ist für eine Frau, zu hören, es gibt wunderbare Frauen auf der Welt, und die sind alles gute Frauen, aber du bist die Beste. Und wenn sie das hört, wird sie sich freuen und diese Freude wird dann auf das Sexuelle übergehen."
Ganz konkrete klare Anweisungen in jüdischen Schriften zur Häufigkeit von Sex unterschiedlichster Berufsgruppen seien im historischen Zusammenhang zu interpretieren und müssten der heutigen Zeit angepasst werden. Dieses direkte Thematisieren von Sexualität zeige aber, "wie ernst man die Verbundenheit, das Gefühlsleben, genommen hat."
Im Rückblick an ihr eigenes Aufwachsen in einer jüdisch-orthodoxen Familie in Frankfurt am Main erinnerte sich Westheimer an ein im Schrank verstecktes Buch über Sexualität, das sie als Kind heimlich angeschaut habe – mit prägenden Erfahrungen: "Und da habe ich nur gelernt, dass die beiden gelacht haben auf dem gezeichneten Bild. Und da habe ich gedacht, die haben es gut miteinander."
Gerade auch mit Blick auf jüdische Traditionen gebe in der Sexualität noch eine Menge zu erforschen, lautet das Fazit der 88-jährigen. Sie plädiert dafür, auch in der Forschungslust nicht nachzulassen: "Wir haben sehr viele Untersuchungen, wir brauchen aber noch mehr."
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Die Familie steht im Mittelpunkt des jüdischen Gemeindetags an diesem Wochenende in Berlin, und weil keine Familie ohne Sex entsteht, hat der Zentralrat der Juden in Deutschland eine Ikone der Sexualberatung und Sexualaufklärung eingeladen, nämlich Dr. Ruth Westheimer. Ihre Biografie in wenigen Worten zusammenzufassen, das ist eine echte Aufgabe. Ruth Westheimer wurde 1928 in Wiesenfeld geboren, und sie schaffte es als Zehnjährige, über die Schweiz den Nationalsozialisten zu entkommen, während ihre Eltern in Auschwitz ermordet wurden. Westheimer ließ sich in Palästina zur Scharfschützin ausbilden und lebt seit 60 Jahren in den USA, und wer immer ihr wo und wann begegnet, der ist beeindruckt. Ich habe Ruth Westheimer während des jüdischen Gemeindetags in ihrem Hotel getroffen.
Ruth Westheimer, herzlich willkommen in "Studio 9"!
Ruth Westheimer: Danke schön!
Welty: Sie sind nach Berlin gekommen, um auf dem jüdischen Gemeindetag über jüdische Tradition und jüdische Sexualität zu sprechen. Nun sprechen Sie ja seit Jahrzehnten sehr viel über Sexualität und Sex, warum ist Ihnen dieses Thema ein besonderes Anliegen?
"Im Judentum ist das Sexuelle und die Sexualität sehr wichtig."
Westheimer: Weil ich damit erkläre, dass im Judentum das Sexuelle und die Sexualität sehr wichtig sind. Zum Beispiel habe ich heute dieser Riesenversammlung erzählt, dass ich über Sexualität so offen sprechen kann, weil ich sehr jüdisch bin, dass im Judentum die Sexualität zwischen Ehepaaren sehr wichtig war. Und das werden sich die Leute merken, das ist aber was ganz Ernstes, dass ich mein Familienleben und meine persönlichen Erfahrungen beiseite gelassen habe, wenn ich über Sexualität und psychologische Probleme gesprochen habe.
Welty: Wodurch zeichnet sich denn jüdische Sexualität aus und wodurch unterscheidet sie sich von der Sexualität anderer Menschen?
Westheimer: Wenn ich von jüdischer Sexualität spreche und von der Bibel und den Kommentaren, dann spreche ich immer über Paare, weil die unbedingt wollten, dass Leute heiraten und Kinder haben, damit die Juden weiterexistieren. Und was sich dadurch unterscheidet, ist, das ist immer eine Obligation des Ehemannes, seine Frau zu befriedigen, und zwar auf irgendeine Weise, was sie braucht. Dann hab ich auch erzählt heute über Sigmund Freud, der hätte einen Kurs an der Universität mit mir machen müssen, denn der hat uns Frauen ein Riesenproblem geschaffen, weil er gesagt hat, dass eine Frau, die nicht zum Orgasmus kommt während dem Geschlechtsverkehr, eine unreife Frau ist. Und das ist natürlich Unsinn. Der hat nicht gewusst, dass die Klitoris – ich darf so reden, Sie dürfen nicht so reden, nur ich – dass die Klitoris da mit berührt werden muss und dass es also keinen vaginalen oder nicht vaginalen Orgasmus gibt. Und dann hab ich so weitere Sachen erzählt und hab Hausaufgaben gegeben, das gebe ich jetzt euch am Radio: Heute Abend nicht irgendjemand auf der Straße in Berlin aufzunehmen, sondern mit dem Partner, den ihr habt, heute Abend mal eine Position einnehmen beim Sexualverkehr, die ihr noch nie gemacht habt und mich dann morgen anrufen und mir erzählen, dann hab ich ein bisschen mehr Material.
Welty: Sie empfehlen auch, dass Männer singen für ihre Frauen.
"Die Freude wird auf das Sexualleben übergehen"
Westheimer: Nein, ich sag nicht singen, es gibt ein Gebet. In der jüdischen Tradition ist dem Ehemann angelegt worden, dass er am Freitagabend – weil er dann nicht mehr arbeitet und weil es das Wochenende ist – sexuell Verkehr mit seiner Frau haben soll. Und da gibt es ein Gebet, und dieses Gebet heißt "Das Lob der Frau", und der Ehemann sagt dann seiner Frau in dem Gebet, in einer der letzten Zeilen, dass sie die Beste auf der Welt ist. Und das hab ich immer so interpretiert, dass das wunderbar zu hören ist für eine Frau: Es gibt wunderbare Frauen auf der Welt, die machen alle gute Sachen, aber du, du bist die Beste. Wenn sie das hört, "du, du bist die Beste", wird sie sich freuen, und diese Freude, die wird auch auf das Sexualleben übergehen.
Welty: Würden Sie sagen, Juden haben den glücklicheren Sex oder den besseren Sex?
Westheimer: Nein, ich sag nur, die, die glücklicheren und besseren Sex haben, sind die, die von mir gelernt haben. Das können Juden, Katholen und Protestanten sein. Ich hab einen Vortrag gehalten vor einiger Zeit in Kairo, in Ägypten, da waren 250 muslimische Ehepaare, und denen hab ich auch gesagt, was sie machen müssen, damit ihr Leben, ihr Sexualleben nicht langweilig wird. Ich sag also nie, dass jüdische Leute besseren Sex haben, ich sag nur, dass ich als Sexualtherapeutin und -erzieherin so offen sprechen kann, weil ich sehr jüdisch bin.
Welty: Warum ist das so?
Westheimer: Weil im Judentum Sexualität nie eine Sünde war, sondern immer eine Obligation, aber in der Ehe, also nicht irgendwo in Berlin auf der Straße.
Gebote für das Sexualleben
Welty: Es gibt ja auch in jüdischen Schriften etliche konkrete Handlungsanweisungen – so sollte ein Arbeiter zweimal die Woche Sex haben, ein Kameltreiber mindestens einmal im Monat. Jetzt ist die Zahl der Kameltreiber hierzulande begrenzt, wie wörtlich muss man solche Maßnahmen nehmen?
Westheimer: Dann muss man wissen, dass die Berufe sich ändern, aber ich habe meiner Tochter gesagt, nie einen Matrosen zu heiraten, denn der hat nur jede sechs Monate sexuellen Verkehr.
Welty: Und das ist zu wenig.
Westheimer: Ganz bestimmt zu wenig. Aber das muss man der Zeit anpassen, aber was ich damit zeigen will, ist, wie ernst die Verbundenheit und das Gefühlsleben genommen haben zwischen den Eheleuten.
Welty: Wie ist es Ihnen ergangen, die Sie als Kind in eine jüdisch-orthodoxe Familie hineingeboren worden sind?
Westheimer: Ich weiß noch, es gab ein Buch, das hat geheißen "Die Ehe", das war damals ein ganz verbotenes Buch mit Zeichnungen über Sexualität. Und ich weiß noch, ich hab das im Bücherschrank entdeckt und nur angeguckt, wenn niemand dabei war.
Welty: Und was haben Sie da gelernt?
Westheimer: Oh, davon habe ich nur gelernt, dass die beiden gelacht haben auf dem Bild, der Zeichnung, und da hab ich gedacht, die haben es gut miteinander.
Welty: Gibt es eigentlich irgendetwas, was Dr. Ruth Westheimer über Sex noch nicht weiß?
Westheimer: Es gibt noch viele Untersuchungen, die gemacht werden müssen in Europa, in Amerika. Es gibt viele Sachen, die wir nicht wissen. Zum Beispiel hab ich heute gesagt im Vortrag, es steht in der jüdischen Tradition: Wenn ein Mann seine Frau befriedigt, bevor er ejakuliert, dann hat sie einen Sohn. Wir haben keine wissenschaftlichen Beweise dafür, aber es könnte sein, dass das richtig ist, weil vielleicht da mehr Flüssigkeit in der Scheide ist, und vielleicht kann dann das männliche Spermatozoa schneller rauf. Aber wir brauchen noch viel mehr Untersuchungen. Aber wir in Amerika, wir haben wegen Kinsey und Masters und Johnson und Dr. Helen Singer-Kaplan, alle, die vor mir kamen, wir haben sehr viele Untersuchungen, wir brauchen aber noch mehr.
Welty: Frau Westheimer, haben Sie sehr herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Westheimer: Danke schön! Das war sehr schmerzlos.
Welty: Ruth Westheimer zu Gast beim jüdischen Gemeindetag und in "Studio 9", wo sie über jüdische Traditionen und jüdische Sexualität gesprochen hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.