Wie soll sich nun der Europarat Russland gegenüber verhalten – angesichts der Annexion der Krim?
Stefanie Schiffer ist Gründerin der NGO "European Exchange", einer Organisation, die sich für Demokratie in Europa und den Nachbarstaaten einsetzt – im Interview spricht sie sich im Interview mit Deutschlandfunk Kultur klar für die Aufrechterhaltung der Sanktionen gegenüber Russland aus.
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Alles schaut auf Russland!
24:19 Minuten
Der Europarat hat den russischen Abgeordneten nach der Krim-Besetzung 2014 das Stimmrecht im Europarat entzogen. Ende Juni will er entscheiden, ob Russland trotz Regelverstoß Mitglied bleibt. In der Ukraine und in Russland sorgt das für heftige Debatten.
Samstagabend im Zentrum von Kiew. Auf dem Chreschtschatik, der Prachtstraße, die zum Maidan führt, flanieren Einheimische und Touristen. Junge Leute sitzen auf dem Pflaster, hören den Straßenmusikern zu. Eine entspannte Atmosphäre. Der Krieg im Osten der Ukraine scheint weit weg. Doch der Schein trügt, erzählt Witalij Sytsch.
"Im Donbass sind ungefähr zehntausend Menschen umgekommen. Jeder hat Verwandte oder Bekannte verloren. Der Krieg ist jetzt zwar in eine schwächere Phase übergegangen, aber jeden Tag wird geschossen, ständig sterben Menschen. Gerade heute morgen habe ich gelesen, dass zwei Soldaten umgekommen sind und neun verwundet wurden."
Sytsch leitet die Wochenzeitschrift "Nowoje Wremja", eines der wichtigsten politischen Blätter der Ukraine. Sie hätten Journalisten in der Redaktion aufgenommen, erzählt der 44-Jährige, die aus den besetzen Gebieten Luhansk und Donezk geflohen seien, vor den von Russland unterstützten Separatisten. Auch das Viertel, in dem er in Kiew wohne, der Randbezirk Obolon, sei voller Vertriebener.
"Im Hof parken ungefähr 20 Autos aus Donezk und Luhansk. Du siehst das an den Kennzeichen: Donezk ist AN, Luhansk ist WW. Die Leute haben alles verloren: Ihr Geschäft, ihr Haus, ihre Arbeit. Wir haben mehr als eine Million Binnenvertriebene."
Russland darf nicht ungestraft bleiben
Schuld daran ist Russland, das nicht nur die Separatisten in der Ostukraine unterstützt, sondern auch die Halbinsel Krim annektiert hat. Und deshalb dürfe Russland nicht ungestraft davonkommen, findet Sytsch.
"Wenn jemand gegen Regeln verstoßen hat, dann muss man ihm ein Signal senden. Man muss ihm zumindest die gelbe Karte zeigen, wenn nicht sogar die rote. Wenn ein Gewalttäter jemanden auf der Straße vergewaltigt, versucht man auch nicht, ihm die Tür offen zu halten und einen Dialog mit ihm zu führen, um ihn zu beruhigen und ihn irgendwie zu beeinflussen. Einen Gewalttäter animiert so etwas nur zu neuen Verbrechen."
Doch genau das passiert derzeit. Es geht um Russland und den Europarat. Dort ist Russland seit 1996 Mitglied. Die Parlamentarische Versammlung in Straßburg hat der russischen Delegation 2014 das Stimmrecht entzogen – eine Reaktion auf die russische Aggression gegen die Ukraine. Die russischen Parlamentarier kommen deshalb nicht mehr zu den Sitzungen, und Russland zahlt auch keine Mitgliedsbeiträge mehr.
"Thank you, Miroslav, next one the Russian Federation, Mr Sergey Lavrov, please."
Kürzlich tagten die Außenminister der Mitgliedsstaaten. Sie schlugen mit großer Mehrheit vor, Russland das Stimmrecht im Europarat zurückzugeben. Und das, obwohl Russland seine Haltung zur Krim und zur Ostukraine nicht geändert hat. Endgültig entscheiden muss das die Parlamentarische Versammlung der Mitgliedsstaaten Ende Juni. Witalij Sytsch erinnert daran, dass es den Ukrainern während der Revolution 2013/2014 um Werte ging.
Die Ukraine fühlt sich getäuscht
"Mehr als hundert Menschen sind während der Proteste im Zentrum von Kiew gestorben, weil sie eine neue Ukraine wollten, politische Konkurrenz, Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit. Die Ukraine wollte Teil der europäischen Zivilisation werden. Und dann kriegt sie von eben dieser Zivilisation das Signal, dass all diese fundamentalen Prinzipien eigentlich gar nicht so wichtig sind."
Die Minister, die Russland das volle Stimmrecht im Europarat zurückgeben möchten, argumentieren, die russische Zivilgesellschaft sei auf den Europarat angewiesen.
Ein Frühsommertag im Moskauer Stadtteil Samoskworetschie. In der Fußgängerzone sitzen Menschen auf Bänken, trinken Kaffee. Die Kuppeln einer Kirche glänzen golden im Sonnenlicht.
In einem Hinterhof hat die Organisation Obschestvennyj Verdikt ihr Büro. Die Organisation setzt sich für Verbesserungen im russischen Strafvollzug ein und kämpft gegen Folter und Polizeigewalt. Auf einem Tisch stehen Blumen und Weinflaschen. Die Organisation ist gerade 15 Jahre alt geworden.
Natalja Taubina, die Leiterin, hat Mühe, zwischen all den Papierstapeln auf ihrem Schreibtisch Platz für ihre Teetasse zu finden. Obschestvennyj Verdikt betreut diverse Klagen von Folteropfern gegen den russischen Staat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
Europarat für die Gegner Putins wichtig
Für viele Russen ist das Gericht des Europarats das einzige Mittel, Recht zu bekommen. Denn die Justiz in Russland ist nicht unabhängig, oft übernehmen die Richter einfach die Anklageschrift. Obschestvennyj Verdikt hat auch in eigener Sache in Straßburg geklagt, und zwar gegen das umstrittene NGO-Gesetz, das Russland vor einigen Jahren eingeführt hat. Danach müssen sich Organisationen, die mit ausländischen Partnern arbeiten, als "Agenten" registrieren lassen. Dieser Status erschwert die Arbeit der NGOs erheblich. Natalja Taubina hofft, dass die Straßburger Richter das NGO-Gesetz für rechtswidrig erklären.
"Das NGO-Gesetz widerspricht sowohl der russischen Verfassung als auch internationalen Standards. Wenn wir vor russischen Gerichten überhaupt mal Recht bekommen haben, dann nur aufgrund von Formfehlern, Fristverletzungen und ähnlichem."
In den letzten sechs Jahren, seit Russland die Freiheiten der Bürger immer weiter einschränkt, sei die Bedeutung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs für die Menschen noch einmal gestiegen, meint Taubina. Sie macht sich Sorgen. Sollte die Parlamentarische Versammlung Russland die vollen Rechte nicht zurückgeben und Russland den Europarat verlassen, hätten die Bürger auch keinen Zugang mehr zum Menschenrechtsgerichtshof.
Mehrheit der Russen schätzen Europarat
Eine Umfrage von Menschenrechtlern ergab, dass 80 Prozent der Russen die Mitgliedschaft ihres Landes im Europarat schätzen – gerade wegen der Möglichkeit, außerhalb Russlands ihre Rechte einzuklagen.
Dabei setzt Russland die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofes nur zum Teil um. Der Staat zahlt den Opfern oft nur finanzielle Entschädigungen. Die Straßburger Urteile enthalten aber mehr. Die verurteilten Staaten sollen Gesetze und Strukturen ändern, damit sich Menschenrechtsverletzungen nicht wiederholen. Das befolgt Russland nur selten. Zu selten, räumt Natalja Taubina ein. Doch dank der Urteile habe Russland zum Beispiel die Haftbedingungen verbessert.
"Die Zellen in den Untersuchungsgefängnissen sind nicht mehr so stark überbelegt wie Mitte der 90er-Jahre. Der Wohnbereich wurde von den Klos getrennt. Gut, es gibt jetzt andere Probleme: Einige Untersuchungsgefängnisse stammen aus dem 17., 18. Jahrhundert, die Gebäude kann man nicht mehr renovieren, die Bedingungen sind wirklich hart."
Taubina befürchtet, dass sich die Menschenrechtssituation, sollte Russland aus dem Europarat austreten, noch weiter verschlechtern würde.
"Der Europarat ist für uns ein internationaler Rahmen: Ein Standard, den umzusetzen Russland sich verpflichtet hat. Russland mag diesen Rahmen schlecht umsetzen, ungenügend, aber es gibt immerhin Verpflichtungen, an die man Russland erinnern kann. Das Risiko ist groß, dass die Todesstrafe wieder eingeführt wird. In Russland gibt es große Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz und viele ungerechte Urteile. In dieser Situation die Todesstrafe zu haben, wäre eine Katastrophe."
Rauswurf ist der falsche Weg
Außerdem, so Taubina, werde die Krim davon, dass Russland aus dem Europarat ausscheide, auch nicht wieder ukrainisch. Überhaupt sei ein Rauswurf der falsche Weg, Russlands Politik zu beeinflussen. Natalja Taubina war mit anderen russischen Menschenrechtlern in Straßburg, um bei den Abgeordneten des Europarates für einen Kompromiss mit Russland zu werben. Sie haben eine Resolution überreicht, die mehr als 60 Vertreter namhafter Menschenrechtsorganisationen unterschrieben haben. Die wohl bekannteste russische Menschenrechtsorganisation, Memorial, ist nicht darunter. Und das gleichnamige Menschenrechtszentrum, ein wichtiger Zweig von Memorial, hat sogar eine Gegenresolution verfasst.
Der Flur der Beratungsstelle "Bürgerhilfe" in Moskau ist voller Menschen. Afrikaner, Kaukasier, Zentralasiaten. Swetlana Gannuschkina bittet einen nach dem anderen in ihr kleines Büro, hört sich die Geschichten an, organisiert Hilfe: Mal einen Platz in einer Notunterkunft, mal einen in der Schule für ein Ausländerkind, mal Geld für ein Rückflugticket. Zwischendurch telefoniert sie noch. Gannuschkina ist Mitglied im Vorstand des Menschenrechtszentrums von Memorial. Für ihr Engagement erhielt sie den Alternativen Nobelpreis.
"Wir sind Staatsbürger, und als solche tragen wir Verantwortung. Wir tragen die Verantwortung für die Annexion der Krim. Wir haben sie vielleicht nicht unterstützt, aber sie geschah in unserem Namen. Die Machthaber tun alles im Namen ihres Volkes. Das Volk konnte es nicht aufhalten. Wir sind Teil des Volkes. Also sind wir auch Schuld."
Alle Russen haften für die Annexion der Krim
In dem Papier des Menschenrechtszentrums heißt es, es sei unangebracht, dem Europarat zu empfehlen, einseitig auf Russland zuzugehen.
Gannuschkina stellt klar: Auch ihr wäre ein Verbleib Russlands im Europarat lieber. Denn der Nutzen sei immens. Sie meint aber, die Russen müssten die Konsequenzen der russischen Politik tragen, so bitter das sei.
"Wir sind verpflichtet, in unserem eigenen Land für Ordnung zu sorgen."
So ähnlich sehen das auch viele Ukrainer.
Sonntagvormittag in der westukrainischen Stadt Lwiw. Ein Folklorechor erinnert an die Leiden der Ukrainer während der Sowjetzeit: Alte Frauen und Männer in Trachten. Es geht um Zwangsumsiedlungen unter Stalin, Redner schlagen den Bogen zu den jüngsten Vertreibungen aus dem Donbass.
In Lwiw betreibt Yevhen Hlybovytsky die Nestor Group, eine Vereinigung ukrainischer Think Tanks. Hlybovytsky spricht von einer fortwährenden Bedrohung durch Russland und zählt auf:
"Auf der Krim wurden kürzlich wieder Razzien bei krimtatarische Familien gemacht und 25 Menschen verhaftet. Es gibt mehr als 100 ukrainische politische Gefangene in russischen Gefängnissen. Die russischen Behörden verstoßen gegen internationales Recht, wie im November bei den Vorfällen an der Straße von Kertsch. Wir sehen einen klaren Trend."
Parallelen zum Appeasement 1938
Für die Zukunft befürchtet Hlybovytsky noch Schlimmeres.
"Die Krim ist nicht der erste Ort, an dem Russland einen militärischen Konflikt begonnen hat. Wir haben Transnistrien, wir haben Abchasien. Es gibt viele andere Orte, an denen die Menschen sich Sorgen machen, dass etwas passieren könnte, zum Beispiel im Baltikum. Wir sehen, dass Russland die Souveränität von Weißrussland untergraben will. Wenn Russland im Europarat bleibt, dann hat das Parallelen zur Appeasement-Politik 1938. Wenn wir das zulassen, dann wird es eine neue Krise geben."
Hlybovytsky hofft, dass die Parlamentarier Ende Juni doch noch für den Ausschluss Russlands stimmen.
"Russlands Politik unbeantwortet zu lassen, untergräbt die Autorität der Parlamentarischen Versammlung des Europarats."