Sabine Peters: "Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt"
Wallstein Verlag, Göttingen 2020
180 Seiten, 20 Euro
Der kindliche Blick seziert die Verhältnisse
05:19 Minuten
Sabine Peters ist eine der lesenswertesten zeitgenössischen Autorinnen. Das zeigt auch ihr neuer Roman "Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt" über eine Kindheit in der Bundesrepublik der 60er- und 70er-Jahre.
Auf den ersten Blick vermeintlich unspektakuläre Texte werden oft unterschätzt. Sabine Peters hat wohl deshalb nur bei Eingeweihten den Ruf, eine der lesenswertesten zeitgenössischen Autorinnen zu sein. Ihre Sprache ist genau und detailversessen, ihr Stil feinnadelig, und ihre Pointen sind nicht vordergründig, sondern wirken eher unterschwellig.
Das ist auch bei ihrem neuesten Roman "Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt" zu beobachten. Bereits der Titel beweist, dass es hier nicht um oberflächliche Effekte geht. Er greift einen Satz auf, der versteckt in einer der geschilderten Episoden fällt und in der ein Mädchen sich in einer Gartenparzelle eine kleine Märchenwelt aufbaut – der "wahre Apfel" ist dabei ein wirklicher Apfel, aber die Vermischung von realem Erleben und einer Phantasiewelt wird durch ihn nur irritierender.
Differenziert und ausgefeilt
Die artifizielle Technik der Autorin besteht darin, Kindheitserlebnisse in prägnanten Ausschnitten vor Augen zu führen, sie sind meist nur zwei oder drei Seiten lang. Im Mittelpunkt steht Marie, die drei Schwestern hat und zusammen mit den Eltern und diversen Tanten und Onkeln Teil eines Familienpanoramas ist.
Es geht um die Bundesrepublik der 60er- und 70er-Jahre, und wir erleben Marie ab dem Zeitpunkt, an dem die ersten bewussten Erinnerungen anfangen, mit vier oder fünf Jahren, bis zu den Schwellen der Pubertät. Erzählt wird konsequent aus der Perspektive des Kindes.
Marie tritt dabei aber in der dritten Person auf. Ihre Beobachtungen, die von Neugier, von Ängsten, von Übermut und von Noch-nicht-begreifen-Können geprägt sind, werden so differenziert und ausgefeilt dargestellt, wie es ein Kind zwar fühlen, aber nur ein Erwachsener in Sprache fassen kann.
Dieser Kunstgriff führt zu einem merkwürdigen Flirren, das die Wahrheit des Kindes als allgemeine Gesellschafts- und Psychodiagnose lesen lässt: Groteske, skurrile und absurde Szenen setzten sich zu einem ungemein schärferen, die Verhältnisse viel besser sezierenden Bild zusammen, als es eine gemeinhin "realistische" Schreibweise leisten könnte.
Sozial vielschichtig
Das Milieu ist katholisch und provinziell, aber die damit verbundenen Repressionen teilen sich eher beiläufig mit. Die Lebensgier der vier Schwestern lässt die katholischen Erziehungsmaßnahmen vor allem verwundert registrieren, sie setzt sich gegen den äußeren Druck, so deprimierend er oft wirkt, auch immer zur Wehr.
Sozial äußerst vielschichtig sind die verschiedenen Freunde und Verwandten der Familie gezeichnet. Es gibt künstlerisch orientierte, freizügigere Ansprechpartner, die in ihren verwegenen Einzelheiten aber genauso schonungslos wahrgenommen werden wie die Lehrerin oder die offen autoritären Tanten.
Der chronologische Faden des Textes endet mit dem Tod einer Großmutter – in einer "Kadenz" am Schluss aber zeigt die Autorin, dass der anarchisch unbestechliche Blick aus der Kindheit durchaus noch weiterreichen kann, bis in die späteren Phasen der Auseinandersetzung mit sich und der Welt.