Sabine Rufener: "Der Wal im Garten"
Kunstanstifter Verlag, Mannheim 2021
36 Seiten, 22 Euro
Skurrile Geschichte einer Freundschaft
05:10 Minuten
Bilderbücher über Wale boomen. Die größten Säugetiere der Welt faszinieren einfach zu sehr. Oft erscheinen die Wale dabei als weise Ratgeber, Retter oder Freund. Nicht so im neuen Buch der Baseler Autorin und Illustratorin Sabine Rufener.
Sabine Rufeners Wal ist nicht klug, er ist nicht weise, sondern er ist ein mürrischer, fordernder Eindringling. Eines Morgens liegt er wie ein monströser Haufen in Lilles Garten und hat mit seinem Gewicht ihr Fahrrad zerdrückt.
Ganz lakonisch heißt es: "Und da wusste sie, dass sie heute zu spät zur Schule kommen würde."
Dem Wal ist alles egal
Doch das ist nicht das einzige Problem, das Lille nun hat. Denn der Wal im Garten bleibt erst einmal, hat oft schlechte Laune, singt zu laut, ist Lille gegenüber vorwurfsvoll oder beleidigt und hat überhaupt keinen Blick für seine aussichtslose Lage.
Stattdessen schwadroniert er über das Gehirn von Walen und ist nicht bereit, Lilles Fragen zu beantworten. Woher kommt er? Wo hat er sich so verletzt? Wie kam er in den Garten? Und: Wie soll es weitergehen? Dem Wal scheint das egal.
Große Sehnsucht, kleiner Wal
Ganz vorsichtig beginnen die beiden, sich anzunähern. Und während die Freundschaft wächst, beginnt der Wal zu schrumpfen. Nicht weil er hungert, sondern weil er Sehnsucht nach dem Meer hat. Die macht ihn immer kleiner und seine schlechte Laune immer größer, so dass Lilles Geduld irgendwann zu Ende ist und sie den kleingewordenen Wal in einem Eimer ins Meer trägt. Eine Befreiung für beide!
Es ist eine merkwürdige Geschichte, die Autorin und Illustratorin Sabine Rufener hier erzählt. Eine, die mehr Fragen offenlässt als sie beantwortet. Dass niemand den Wal in dem zugewachsenen Garten bemerkt, auch die Oma nicht, ist für eine surreale Geschichte plausibel.
Keine Angst vor dem Tod
Woher der Wal kommt, warum er nichts von sich erzählen will, aber keine Angst hat vor dem Sterben auf dem Trockenen - das alles wird nicht erklärt.
Eine "wunderbare Freundschaft" - und damit ein Klischee-Bilderbuch-Thema - ist das für Lille nicht, eher ein Lernprozess: Sie nimmt den gestrandeten Eindringling hin, passt sich seinen Launen an, freut sich über gemeinsame Spiele und bringt ihn schließlich ins Meer. Am Schluss ist sie wieder zu Hause in ihrem wilden Garten mit seinen riesigen Bäumen.
Im Gegensatz zu dem eher pragmatisch-klaren und sparsamen Text mit seinen nur leicht angedeuteten Themen wie Freundschaft und Heimweh sind Sabine Rufeners Bilder von einer ausdrucksstarken Schönheit.
Großartig gezeichnet
Ihre ungewöhnliche Technik - sie arbeitet mit verschiedenen Drucktechniken, Collage und Frottage, aber auch mit Farbstiften und Tusche - führt zu eindrucksvollen Momentaufnahmen aus dem Garten, vom Wal, dem Mädchen und dem Meer.
Jede Doppelseite hat eine eigene, gedeckte Grundfarbe, in die hinein die Szenen aus oft ungewöhnlicher Perspektive komponiert sind. Vor türkisfarbenen, grünen, tiefblauen, leuchtend ockerfarbenen oder braun-grauen Hintergründen ranken und sprießen grazil gestaltete Pflanzen.
Licht und Schatten, Dunkel und Helligkeit, Erde und Wasser sind großartig gezeichnet.
Und wenn man Lille am Schluss von hinten auf ihrem Fahrrad und dann am Meer sitzen sieht, dann braucht es keine Worte mehr. Lille - das sind wir alle. Erstaunt, beglückt, verärgert, genervt von einem anderen - und dann doch wehmütig, wenn er nicht mehr da ist.