Sachbuch

Abkehr von marktkonformer Demokratie

Von Eike Gebhardt |
Colin Crouch kritisiert den Neoliberalismus, wie er heute gelebt wird. Er spricht sich aus für eine sozialdemokratische Partei im überparteilichen Sinn. Eine Strömung, die aus ihrer defensiven Haltung herauskommen müsse, die der Macht der Wirtschaft etwas entgegensetzen kann.
Schon der Begriff führt in die Irre: Was heute unter der Flagge "neoliberal" segelt, missbraucht die Suggestivkraft jenes Wortes, das sich auf eine ehrenwerte Tradition beruft. Die Freiheit, die es meint, ist das Naturgesetz des Dschungels, die Freiheit des Stärkeren, allen anderen seine Bedingungen zu diktieren.
Nichts anderes meinte Merkels Freudscher Offenbarungseid, sie wolle eine "marktkonforme Demokratie", einen Zustand, dem Crouch das Etikett "postdemokratisch" anheftet. Im Gegensatz zu Merkel will Crouch "den Kapitalismus an die Gesellschaft anpassen" - so müsste, aussagekräftiger, der Titel des vorliegenden Bandes übersetzt werden. Zwar würde Crouch sich kaum freiwillig in Parteienzwist verstricken, doch sieht er gegen jene Diktatur der Wirtschaft über die gefügige oder opportunistische Politik nur einen Hoffnungsschimmer: eine sozialdemokratische Politik im überparteilichen Sinn.
Sozialdemokratie muss Nebeneffekte der Marktwirtschaft korrigieren
Er will sie aus ihrer "defensiven" Haltung wachrütteln. "Die Sozialdemokratie muss den Schwerpunkt ihrer Aktivität auf die Beseitigung unerwünschter Auswirkungen der strukturell ineffizienten Marktwirtschaft legen." Denn "die ungleiche Einkommensverteilung in den Vereinigten Staaten von Amerika hat einen derart extremen Punkt erreicht, dass es Sorgen gibt, sie könnte der Wirtschaft schaden", fürchten inzwischen selbst erzorthodoxe Institutionen wie IWF uns OECD.
Ganz nebenbei fördere diese Entwicklung xenophobe Tendenzen, obwohl Liberalismus und Rassismus eigentlich "inkompatibel" seien. "Die Antwort auf diese Paradoxa findet sich in der Tatsache, dass die Logik der Politik auf Macht beruht und nicht auf der Logik der kohärenten Argumentation." Das zeige sich schon daran, dass das Personal so leicht zwischen Politik und Wirtschaft hin und her wechsele - und dadurch einen angeblich heiligen neoliberalen Grundsatz außer Kraft setze: die Trennung zwischen Staat und Wirtschaft.
Wie konnte es soweit kommen? Deprimierend einfach, glaubt Crouch: Die Wirtschaft konnte so mächtig werden, weil die Parteien immer weniger die Interessen spezifischer Bevölkerungsteile vertreten. Das ist zwar mehr eine Umschreibung als eine Antwort, zielt aber auf die fatale Tendenz zur Volkspartei, die dann am Ende gar keine Identität mehr hat.
Wirtschaftselite hat bessere Lobbyisten als Arbeiter
Wer sich nicht mehr vertreten fühlt, drifte fast zwangsläufig in die Randzonen der Demokratie. Zwar meine "Postdemokratie" nicht einen Zustand nach der Demokratie, sondern eine zunehmende Aushöhlung demokratischer Funktionen, das Wort beschreibe also eine Tendenz, keinen Zustand. Doch der Trend sei klar: Die Wirtschaftselite habe eine klare Vorstellung ihrer Interessen und wie sie durchzusetzen seien, während der arbeitenden Bevölkerung beides verloren gehe.
Hoffnung sieht Crouch unter anderem im wachsenden Widerstand ganz unterschiedlicher (aber oft gut vernetzter) Bürgerinitiativen mit diesem gemeinsamen Feindbild - und in dem überall wiederauferstandenen Leitbild der "Gerechtigkeit". Und in just jenem Trend, dass Lobbyisten als Politiker sich damit in der Öffentlichkeit verletzlich machen. "Wir können das Monster nicht besiegen, aber ihm wie Insekten überall kleine Stiche versetzen und es so beeinträchtigen." Steter Stich höhlt Siegeswillen?

Colin Crouch: "Jenseits des Neoliberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit"
Übersetzt von Georg Bauer
Passagen-Verlag, Wien 2013
236 Seiten, 19,90 Euro

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