Robert Beachy: Das andere Berlin
Die Erfindung der Homosexualität: Eine deutsche Geschichte 1867 – 1933
Siedler Verlag, München 2015
464 Seiten, 24,99 Euro
Begriff "Homosexualität" wurde in Preußen erfunden
Robert Beachy erzählt in seinem Buch "Das andere Berlin - Die Erfindung der Homosexualität" von Pionieren der Sexualwissenschaft, von Debatten um die Anerkennung Homosexueller im Kaiserreich - und vom schwulen Eldorado Berlins in der Weimarer Zeit.
So soll Berlin vor den Nazis gewesen sein? "Perversitäten! Laster noch und noch!" (Klaus Mann), "Sodom und Gomorrha" (Jean Renoir), "gleichbedeutend mit Jungs" (Christopher Isherwood)? Wo ganz normale Reiseführer verkündeten, dass selbst die biedere Reiseagentur Cook Touristen zu schwulen Lokalen namens "Katzenmutter" und "Kleist-Kasino", "Adonis-Diele" oder "Cosy Corner" brachte – "wie zu einem Kuriositätenkabinett"? Nein. So war Berlin nicht. Es war noch viel toller.
Und das nicht erst in der Republik von Weimar, wie uns Robert Beachy detailreich und locker zu lesen aufklärt: Das ging schon los unter dem prüden Wilhelm Zwo. Als die "Urninge" aus aller Welt an die Spree reisten, wo Mediziner genau erforscht hatten, woran der "Sodomit" zu erkennen war: der passive an einem schlaffen Gesäß, der aktive an einem dünnen, pfeilspitzenförmigen Glied.
Wo die Polizisten im 1885 eingerichteten Homosexuellen-Dezernat gerne ein Auge zudrückten bei Verstößen gegen den Paragraphen 175, das andere aber umso wacher beobachtete, wer alles so beim schwulen Maskenball, dem "Ball der Weiberfeinde" auflief – und auch registrierte, dass des Kaisers eigener Vetter Prinz Friedrich Heinrich sich im Schwulenwäldchen Tiergarten, als Stallbursche verkleidet, prostituierte.
Kein Wunder, dass hier schon 1869 der Begriff "Homosexualität" erfunden wurde für die Urninge – und zwar von dem Journalisten Karl Maria Kertbeny, der gegen das preußische Sodomiegesetz anschrieb. Vergeblich – wie auch der Anwalt Karl Heinrich Ulrichs zwei Jahre vorher auf dem Deutschen Juristentag in München ausgebuht und weg geschrien wurde ("Schluss!", "Kreuzigen!"), als er sich dagegen aussprach, dass in das Strafrecht des vereinten Deutschen Reiches die scharfen preußischen Bestimmungen gegen Sodomie aufgenommen werden.
Wo genau begann der Kampf um Akzeptanz?
Wegen "widernatürlicher Unzucht" wurden im Kaiserreich jedes Jahr Hunderte Männer verurteilt. Zugleich erschienen hier mehr Bücher über sexuelle Minderheiten, wissenschaftliche wie literarische, als im Rest der Welt zusammen. Und das Berliner schwule Kneipenleben begann mit einer ersten Blüte. Der Arzt Magnus Hirschfeld fand – ebenfalls in dieser Zeit – mit seinem "Wissenschaftlich-humanitären Komitee" und später, in der Weimarer Republik, mit dem "Institut für Sexualwissenschaft", in der Wissenschaft immer mehr Zustimmung, wenn er feststellte, Homosexualität sei angeboren.
Doch es blieb auch in der Republik der große Zweispalt: das Damoklesschwert des Paragraphen 175 auf der einen, die blühende schwule Subkultur auf der anderen Seite – mit mehr als 100.000 Mitgliedern in diversen Interessengruppen; mit Dutzenden von Zeitungen und Magazinen, wovon die übrige Welt nur träumen konnte. 1903 hatte der Anwalt Alfred Jakobs bis zur Abschaffung des Paragraphen 175 "hundert Jahre noch" prophezeit. Es wurden dann doch nur knappe neunzig Jahre, bis es unter dem Bundeskanzler Helmut Kohl soweit war – in dessen CDU heutzutage auch Schwulen die höchsten Ämter offen stehen.
Wer wissen will, wo und wie der Kampf für die gesellschaftliche Akzeptanz vor 150 Jahren begann und wie er weiterging, bis die Nazis an die Macht kamen, der kann auf "Das andere Berlin"nicht verzichten. Aber: Wer auch eine einfühlsame Einbettung in die Zeitläufte erwartet, der findet sich leicht enttäuscht; es fehlt gelegentlich doch sehr das historisch Hintergründige. Warum etwa verfolgten gerade die lutherischen Preußen mit ihrem soldatischen Männlichkeitskult die Schwulen viel strenger und unnachgiebiger als katholisch-lässige Staaten? Wer deutsche Mentalitäten nachschmecken und nachriechen will, sollte dann doch bei dem besten Wilhelm-Zwo-Biographen nachlesen: bei John C. G. Röhl. Oder gleich bei Heinrich Mann: "Der Untertan".