Sachbuch

Blick ins Herz Eurasiens

Die Altstadt der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku mit Minaretten liegt vor dichtbebauten neuen Hochhäusern.
Das Zentrum von Baku: Im Vordergrund die Altstadt der Kaukasusmetropole. © Deutschlandradio / Sven Töniges
Von Marko Martin |
Wer bei Baku nur an den Eurovision Songcontest denkt, sollte Stephan Wackwitz' Buch lesen. Der vielgereiste Autor beschreibt in gelungenen Essays das kulturelle und politische Leben in den drei Ländern Aserbaidschan, Georgien und Armenien - erhellende und unterhaltsame Einblicke.
Stephan Wackwitz, Jahrgang 1952, ist ein Schriftsteller, wie er als Typus ansonsten eher in der französisch- und spanischsprachigen Welt bekannt ist: Der feinnervige Intellektuelle, der neugierig diverse Kulturen bereist, sich in großen Städten zu Hause fühlt, jedoch bei all dem institutionell abgesichert ist. Der Dichter Octavio Paz war Mexikos Botschafter in Indien, der kubanische Romancier Alejo Carpentier, und der Chilene Pablo Neruda vertraten in der gleichen Position ihre Länder in Paris, der französische Lyriker Saint-John Perse arbeitete als Diplomat in den USA. Sie alle hatten über ihre Welterfahrungen Bücher geschrieben, und wer die Fallhöhe zum eher provinziellen Deutschland ermessen will, denke am besten an den Nazivergangenheitsverdränger und Vielschreiber Erwin Wickert: "Unser Mann in Tokyo und Peking."
Der ungleich reflektiertere Stephan Wackwitz dagegen hat eine linksintellektuelle Sozialisation hinter sich, vor allem aber Stationen als Leiter zahlreicher Goethe-Institute von Neu Delhi bis New York. Sein schönstes Buch ist Tokyo gewidmet, sein neuestes ist gerade erschienen: "Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan." Dieser analytische, dabei gewitzt subjektive Reise-Essay versammelt wiederum alle Tugenden dieses Autors: Stadt-Beschreibungen von pointillistischer und ironischer Prägnanz; landeskundliche Exkurse ohne Baedeker-Betulichkeit.
Dazu die überraschenden, jedoch nie eitlen Assoziationen eines vielgereisten Kulturbürgers: So erinnert ihn das heutige, semi-archaische Tiflis nicht nur an die Filme Federico Fellinis, sondern auch an die Gestimmtheit italienischer Western. Dagegen heißt es über Armenien: "Und so bin ich mir wirklich vorgekommen wie im Inneren einer kommunistischen Zeit- und Traummaschine, als ich zum ersten Mal auf dem weiten Zentralplatz von Eriwan stand. (…) Ein Kommunismus, den Giorgio de Chirico gemalt hat.“
Deutschlands bester Reiseautor
Ein Autor, der sein eigenes Referenzsystem immer wieder in Frage stellt (eine köstlich souveräne Polemik gegen den serbien-verklärenden Irrwisch Peter Handke inklusive) und sich am Schluss fragt, ob nicht auch er selbst einer Kaukasus-Romantik zum Opfer gefallen war: Gerade nämlich hatte er vom Goethe-Institutsfenster aus gesehen, wie in Tiflis orthodoxe Provinz-Zeloten Jagd machten auf demonstrierende Homosexuelle. Dass am Schluss die Polizei sich im Regierungsauftrag doch noch auf die Seite der Zivilgesellschaft stellt und Stephan Wackwitz eben dieser Georgien-Episode ungleich mehr Platz einräumt als einer Reflexion über die postsowjetischen Herrschaftstechniken im benachbarten Aserbaidschan, ist wiederum eine hübsche Pointe: Heißt es doch inzwischen von der globalisierten intellektuellen Linken, dass in deren Wahrnehmung die Schwulen längst die Rolle des einst idealisierten Proletariats eingenommen haben.
Doch wie auch immer: Es gibt im gegenwärtigen Deutschland wohl keinen zweiten Autor, der wie Stephan Wackwitz Kopf- und reale Reisen so elegant in Einklang zu bringen vermag. Man wünscht deshalb auch seinem jüngsten Buch zahlreiche Leser.

Stephan Wackwitz: Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2014
248 Seiten, 19,99 Euro

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