Luciano Floridi: Die 4. Revolution – Wie die Infosphäre unser Leben verändert
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
314 Seiten, 29,95 Euro
Das digitale Menschenbild
Nach Kopernikus, Darwin und Freud sieht Luciano Floridi die Menschheit auf dem Wege zu einem neuen philosophischen Selbstverständnis. "Die 4. Revolution" sei angebrochen, so der Titel seines Buchs, in dem er eine "Onlife"-Zukunft vorhersagt. Aber ist diese Erkenntnis wirklich neu?
Welches Selbstbild hat der Mensch im digitalen Informationszeitalter? Um diese Frage zu beantworten, holt der renommierte italienische Informationstheoretiker Luciano Floridi historisch ziemlich weit aus. Ein spannendes und verkopftes Unterfangen.
Das philosophische Selbstverständnis des Menschen hat sich in den vergangenen Jahrhunderten bereits dreimal revolutioniert. Unsere frommen Ansichten über die zentrale Stellung der Erde im Universum wurden von Nikolaus Kopernikus gehörig korrigiert. Der Mensch zog sich, ein wenig bescheidener, zumindest auf seine zentrale Stellung auf der Erde zurück: Als biblische "Krone der Schöpfung". Doch mit Charles Darwin und seiner Evolutionstheorie wurde auch dieses Weltbild wissenschaftlich widerlegt.
Es blieb noch die beherrschende Stellung im Raum unseres Denkens und unseres Bewusstseins. Doch auch die Formel "Ich denke, also bin ich" vom französischen Philosophen René Descartes wurde mit der Entdeckung des Unbewussten von Sigmund Freud zertrümmert.
Was ist die Infosphäre?
Jetzt blieb dem Menschen nur noch Rückzug auf seine einzigartige Intelligenz. Doch für den italienischen Philosophen Luciano Floridi haben wir mit der zunehmenden Digitalisierung und der Verbreitung des Internets auch diese Vormachtstellung verloren. Für den Informationsethiker ist klar: Wir befinden uns inmitten einer vierten Revolution, die unser Leben und Selbstbild verändert. Denn in der vernetzten Welt, der so genannten "Infosphäre", sind wir längst dabei eine neue digitale Umwelt zu kreieren.
Die Computer wurden in den vergangenen 30 Jahren immer billiger, kleiner und leistungsstärker. In einen durchschnittlichen Neuwagen steckt heute mehr Rechenleistung als die NASA mit ihren Computern hatte, um Menschen im Jahr 1969 auf den Mond zu bringen.
Jeden Tag produzieren wir genug Daten, um alle Bibliotheken der USA zu füllen und im Durchschnitt trägt jeder Mensch heute mindestens einen Gegenstand bei sich, der mit dem Internet verbunden ist. Egal, ob übers Funknetz mit dem Smartphone, über das Internet mit dem Laptop oder über GPS mit dem Navigationssystem im Auto. Täglich greifen wir auf ein weltumspannendes Netz aus Kommunikations- und Informationssystemen zurück. Diesen globalen Informationsfluss, der sich ähnlich der Atmosphäre um die Erde spannt, nennt Floridi Infosphäre. Die wesentliche Erkenntnis dieser 4. Revolution, die erst in ihren Anfängen steht: Wir sind Information-Kreaturen und abhängig von Computern, die schlauer sind als wir.
Immer sende- und empfangsbereit
Die digitale Onlinewelt greift immer mehr in die analoge Welt hinein – die Grenzen zwischen online und offline werden immer weiter verschwimmen. Der Informationsethiker Floridi spricht daher von der zukünftigen Onlife-Erfahrung, weil offline ohnehin ein seltener Zustand sein wird.
Seine konkreten Beispiele überraschen allerdings kaum und unterscheiden sich nicht wirklich von den zahlreichen anderen Buchveröffentlichungen zum digitalen Zeitalter und der Big Data-Diskussion. Es geht um die Kundenprofilerstellung bei unserem Online-Kaufverhalten, um Youtube-, Twitter- und Facebook-Nutzung, um das Smartphone als geistige Stütze für unsere Termine, um die Auslagerung von Information in Daten-Clouds oder um Self-Tracking-Apps. Also um Smartphone-Programme, die wir beim Sport benutzen können, um Herzfrequenz, Lauftempo oder die eigene Geschwindigkeit zu messen.
Doch oft bleibt es in dem Buch bei Aufzählungen dieser Phänomene. Ein Mehrwert wäre es gewesen, bei konkreten Beispielen tiefer in die Analyse zu gehen. Genau an diesen Punkten, wo sich das Buch von anderen absetzen könnte, bleibt es oft zu wissenschaftlich kryptisch und wenig greifbar.
Wie verändert die Infosphäre unser Selbstbild?
In der digitalen und analogen Identität liegt der spannende philosophische Kern des Themas. Doch auch hier erfährt der Leser nicht wirklich Neues. Es geht um das Facebook-Profil als virtuelle Identität im Netz, um Selbstdarstellung und Informationsaustausch auf Twitter oder Youtube.
Und auch die Tatsache, dass die Online-Identität im Gegensatz zum physischen Körper nicht an den realen Raum gebunden ist, überrascht nicht wirklich.
Wenig überzeugend ist auch die Argumentationslinie entlang der Konstruktion einer zweiten Identität in Form eines Avatars, wie man es in der einst als revolutionär bejubelten 3D-Online-Welt "Second Life" noch vorfinden kann. Vor allem weil genau das Beispiel "Second Life" schon lange als gescheiterte und verwaiste Pixelbrache gilt.
Fazit:Das Buch hat große Erwartungen geweckt, die es nicht erfüllen kann. Luciano Floridi greift zwar die wichtigen Themenaspekte auf, doch am Ende bleibt im Wesentlichen die Botschaft, dass sich die Menschheit grad in einer radikalen Umbruchphase befindet und das wir zunehmend abhängig von Informations- und Kommunikationstechnologien sind. Das wird zweifelsohne unser Leben verändern – im Positiven wie im Negativen. Doch überraschende Denkansätze oder spannende neue Ideen und Analysen liefert der Informationstheoretiker Luciano Floridi hier nicht.