Christian Booß, Helmut Müller-Enbergs: Die indiskrete Gesellschaft
Studien zum Denunziationskomplex und zu inoffiziellen Mitarbeitern
Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt am Main 2015
268 Seiten, 29,80 Euro
Denunzianten sind Teil des totalitären Staates
In der Diktatur ist Diskretion ein Fremdwort - denn die Mächtigen wollen nicht, dass sich Bürger ins Private zurückziehen, wo sie gegen den Staat agitieren könnten. Dass das Denunziantentum ein typisches Merkmal totalitärer Staaten ist, belegen aktualisierte Forschungsberichte.
Diktatur und Diskretion sind ein Paar, das nicht zusammenpasst. Diktaturen müssen davon ausgehen, dass ihre Staatsbürger den jeweiligen Heilsversprechen auf Dauer nicht viel abgewinnen können und sich alsbald in private Nischen zurückziehen, wo sie mehr oder weniger diskret Widerstandsgeist entfalten. Geheimdienste in Diktaturen haben also ein logisches Interesse an Indiskretionen aller Art, die eigene Bevölkerung betreffend. Wo die Privatsphäre aus Gründen der ideologischen "Staatsräson" nicht geschützt ist, sind alle suspekt, die Wert auf Diskretion legen, sich aber nicht auf Geheimdienstarbeit berufen können.
Dass auch Demokratie und Diskretion zum Problempaar werden können, mag im Zeitalter der NSA-Enttarnungen niemand mehr ernsthaft ausschließen, der über Augen, Ohren und eine gewisse Menge Verstand dazwischen verfügt. Sicher ist jedenfalls: Was die systematische Zerstörung von diskreten Lebensräumen aus- und mit Menschen macht, individuell wie sozial, das lässt sich einlässlich studieren an historischen "indiskreten Gesellschaften", die zum Glück nicht mehr existieren. Dem NS-Staat, zum Beispiel, oder auch der DDR.
Denunziation als Schlüsselbegriff der nachrichtendienstlichen Tätigkeit
"Studien zum Denunziationskomplex und zu inoffiziellen Mitarbeitern" nennen Christian Booß und Helmut Müller-Enbergs ihre Sammlung von aktualisierten Forschungsberichten und Aufsätzen aus den letzten Jahren. Beide sind langjährige Mitarbeiter der Behörde des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen (BStU).
"Denunziation ist ein Schlüsselbegriff in der gegenwärtigen Diskussion über nachrichtendienstliche bzw geheimpolizeiliche Arbeit. Auch auf die Diktatur der SED wird er seit längerem bezogen, das Phänomen [wurde aber] vor allem bei Informanten des Staatssicherheitsdienstes verortet. Wir schlagen vor, weitere Phänomene bei der heimlichen Informationsbeschaffung einzubeziehen, die denunziatorische Elemente enthalten."
Mit dem vorläufigen Arbeitsbegriff "Denunziationskomplex" wollen die Autoren den Blick gleichzeitig differenzieren und erweitern. Denn zum einen war nicht jeder IM auch ein Denunziant, zum anderen greift die Fokussierung auf das MfS und seine Informellen Mitarbeiter viel zu kurz. Auch wenn die von der BStU ermittelte Zahl von 189.000 IMs – Stand 1988 – für Erschütterung sorgte, darunter lag ein "Tiefland", ein flächendeckendes Netz von Informanten, das trotz einiger Ansätze Anfang der 1990er Jahre weitgehend unerforscht blieb.
Die DDR brauchte "Auskunftspersonen" aus allen gesellschaftlichen Bereichen
"Das MfS hat seinen Informationsbedarf in den letzten eineinhalb Jahrzehnten der DDR erheblich ausgeweitet. Im Zuge von Personenermittlungen, die faktisch den Charakter von Massenüberprüfungen hatten, war zuletzt fast die Hälfte der Bevölkerung erfasst. Dafür war das MfS zunehmend auf Informationsquellen angewiesen, die über die formalisierten IM-Beziehungen hinausgingen – denn diese reichten schlicht nicht aus."
Wer seine halbe Bevölkerung kontrollieren will, braucht Auskünfte aus dem privaten Umfeld: Arbeitsplatz, Wohnumgebung, Freizeitbereich. Dafür reicht keine noch so engmaschige Vernetzung des MfS mit der Volkspolizei und ihren ABVs, den Abschnittsbevollmächtigten, mit der NVA oder den Parteistrukturen. Er braucht Auskunftspersonen aller Art, kurz: AKPs. Im Gegensatz zu IMs handeln AKPs entweder eigeninitiativ oder werden unwissentlich abgeschöpft. Sie sind einfach indiskrete Nachbarn oder kleine und mittlere Kader wie Hausbuchführer, Leiter und Leiterinnen von Kindergärten und HOs oder aus Blockparteien und Massenorganisationen wie FDJ und FDGB. In manchen Regionen führt das MfS sie auch als "Gute Menschen" (GM) oder "Brauchbare Menschen" (BM) und honoriert sie hier und da.
Auf diese Art waren zuletzt möglicherweise etwa eine Million DDR-Bürger bewusst oder unwissentlich Stasi-Informanten, aber auch sie nicht unbedingt Denunzianten, also "Petzen", die jemandem schaden wollen. Booß und Müller-Enbergs machen klar, wie viel mehr differenzierende Forschung noch nötig ist – nicht zuletzt, indem sie Schlaglichter auf individuelle Motive und Spielräume für Verweigerung werfen.
Kein Platz für Schlussstriche - nirgends
"Ein Vierteljahrhundert, nachdem das MfS untergegangen ist, hat die Debatte noch nicht das Kühlbad rationaler Erkenntnisse erreicht. Das System wurde durch eine Vielzahl von Informationen stabilisiert. Auch nach dem Untergang des MfS ist noch kein 'Ende der Geschichte' abzusehen."
Kein Platz für "Schlussstriche", nirgends, also. Geschichte geschieht weiter, und Geschehenes ragt auch weiter hinein. Wie, das kann man sich zwischen den Zeilen der seminararbeitsmäßig-übersichtlich aufgezogenen, akribisch dokumentierten Texte gut ausmalen. Man muss allerdings auch gut gepanzert sein – gegen Schreib- und Grammatikfehler nämlich. Über ein Korrektorat scheint der Verlag für Polizeiwissenschaft nicht zu verfügen.