Sachbuch

Einen Augenblick, bitte!

Von Florian Werner |
In ihrem Buch "Warten" ist die Journalistin Friederike Gräff einem ungeliebten Zustand auf der Spur, der nur scheinbar neutral ist und sogar glücklich machen kann: Weil er die Zeiterfahrung intensiviert.
Auf dieses Buch hat die Welt ganz sicher nicht gewartet. Aber nicht, weil es schlecht wäre, im Gegenteil. Sondern weil wir verlernt haben, überhaupt auf irgendetwas zu warten. Unser Verhältnis zum Warten, zeigt die Journalistin und Autorin Friederike Gräff, ist ambivalent.
Theoretisch verherrlichen wir es und bewundern all jene, die − in den Worten Franz Kafkas − geduldig warten "wie ein Rind". Praktisch aber scheuen wir es wie die Pest. Kaum stehen wir für zehn Sekunden an der Bushaltestelle, zücken wir das Smartphone und starten die Schöner-Warten-App.
Aus dem öffentlichen Leben ist das Warten − sei es als Anblick von Witwen in Trauertracht, sei es als "sozialistische Wartegemeinschaft" vor dem Lebensmittelgeschäft − nahezu verschwunden.
Ergebnis gesellschaftlichen Wandels
Woher aber rührt die Abwertung des Wartens? Zum einen lässt sie sich als Folge soziopolitischer Veränderungen begreifen: Verbrachten Hausfrauen in Polen Anfang der 80er durchschnittlich dreieinhalb Stunden pro Tag mit dem Schlangestehen für Lebensmittel, beträgt die durchschnittliche Wartezeit an einer deutschen Supermarktkasse heute knapp sieben Minuten. Unsere spätkapitalistische Beschleunigungsgesellschaft lässt Momente des Wartenmüssens als vergeudete Lebenszeit erscheinen.
Zum anderen ist unsere Unfähigkeit zu warten auch eine Folge der Säkularisierung, ist Wartenkönnen doch eine Gabe, die vor allem den religiösen Menschen auszeichnet. In säkularen Gesellschaften gilt Warten schwer erträglich, weil es all dem entgegensteht, was das moderne Individuum als seine unveräußerlichen Werte begreift: Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung.
Solche mentalitätsgeschichtlichen Betrachtungen könnten nun sehr abstrakt sein − aber es gelingt Friederike Gräff auf wunderbare Weise, den Begriff des Wartens mit Leben zu füllen. In klug montierten Interviews und Essaypassagen führt sie spannend und anrührend vor Augen, welche Formen das Warten annehmen kann: Eine Frau wartet auf die Geburt ihres ersten Kinds. Eine Prostituierte wartet auf einen Freier, ein Asylbewerber auf die Bewilligung seines Antrags. Ein Mann im Sterbehospiz wartet auf den Tod.
Wartenlassen zeigt Macht
Warten, das wird schnell klar, ist nicht gleich warten. Die Art, wie man diesen scheinbar neutralen Zustand erfährt, ist ein Anzeiger für individuelle und gesellschaftliche Verfasstheiten. Es sind dabei vor allem zwei Kategorien, die diesen Zustand strukturieren. Die erste ist Geschlecht: Die Wartenden waren historisch gesehen meist Frauen. Die zweite ist Macht: Bis heute ist Wartenlassen ein Zeichen von Autorität, Wartenmüssen hingegen eine Signatur der Hilflosigkeit.
Ein solch erzwungenes Warten, das gesteht auch Gräff ein, ist nicht erstrebenswert. Dennoch bricht sie eine Lanze für diesen "ungeliebten Zustand" – wenn er freiwillig erfahren wird. Die Fähigkeit zu warten sei nämlich eine Voraussetzung für Lernen allgemein wie für das Erlernen gesellschaftlicher Regeln. Und: Warten kann glücklich machen, es intensiviert die Zeiterfahrung, ist "ein Geschmacks-, Farb und Tonverstärker".
Wer dieses Buch gelesen hat, wird fortan anders warten. Und wer es noch nicht gelesen hat, sollte sich in der nächsten Freiminute überlegen, ob er sein Smartphone zückt – oder sich doch lieber in dieses Buch vertieft.

Friederike Gräff: Warten. Erkundungen eines ungeliebten Zustands
Christoph Links Verlag, Berlin 2014
176 Seiten, 14,90 Euro

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