Sachbuch-Empfehlungen des Jahres

Das sind unsere Lieblings-Sachbücher

36:05 Minuten
Coveransichten der ausgewählten Bücher vor einem orangenen Hintergrund.
Sachbücher, die unsere Autorinnen und Autoren in diesem Jahr am meisten begeistert haben. © Rowohlt/ C. Bertelsmann/ Suhrkamp
Moderation: Christian Rabhansl · 28.12.2019
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Das Sachbuch-Team der Lesart ist zum Jahresende zusammengekommen. Welches sind unsere ganz persönlichen Lieblingsbücher der letzten zwölf Monate? Welche Bücher uns selbst gepackt und nicht mehr losgelassen haben?
"Die Abenteuer des Alexander von Humboldt" von Andrea Wulf
Ein aufwändig und fantasievoll illustriertes Buch, mit dem man in Humboldts Südamerika-Reise eintaucht.© C. Bertelsmann

Andrea Wulf: "Die Abenteuer des Alexander von Humboldt. Eine Entdeckungsreise"
Illustriert von Lillian Melcher
C. Bertelsmann, 2019
272 Seiten, 28 Euro

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Kim Kindermann: "Die Abenteuer des Alexander von Humboldt" ist mein Lieblingsbuch, weil es so schön gemacht ist: aufwändig und fantasievoll illustriert, dazu Karten, zeitgenössische Stiche, gepresste Pflanzen… und zwar Originale von Humboldt. Die sind die Unterlage für die modernen Zeichnungen dieser Graphic Novel. Da tauchen wir ein in Humboldts Südamerika-Reise, sind dabei. Gleichzeitig steht Andrea Wulf als Humboldt-Biografin dafür, dass alles historisch verbürgt ist. Andrea Wulf ist wirklich eine ausgezeichnete, eine sehr genaue Historikerin.

Sie hat ganze Seiten im Blocksatz ergänzt, die auf seinen Tagebüchern basieren. Wo war er, was hat er erlebt, welche Affen hat er gesehen. Und ich finde das einen sehr klugen Schachzug: Durch diese Collagen, weil man sich dadurch beim Lesen ein bisschen fühlt, wie Humboldt sich selbst gefühlt haben muss. Weil man in diesen Bildern ständig was Neues entdeckt. Ich habe es auch deshalb als Buch des Jahres ausgewählt, weil es exemplarisch steht für den neuen Trend im Sachbuch: populärwissenschaftlich in der Machart, aber ohne Abstriche im Inhalt zu machen. Für mich das Hammer-Buch des Jahres!

"Geständnisse des Fleisches. Sexualität und Wahrheit Bd. 4" von Michel Foucault
Wie immer arbeitet Foucault historisch, aber seine Fragestellungen kommen aus der Gegenwart.© Suhrkamp

Michel Foucault: "Geständnisse des Fleisches. Sexualität und Wahrheit Bd. 4."
Übers. v. Andrea Hemminger
Suhrkamp, 2019
556 Seiten, 36 Euro

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René Aguigah: Wir wussten schon lange, dass es noch ein weiteres Buch von Michel Foucault gibt, einem der großen Autoren des 20. Jahrhunderts, dass dieses Buch aber nie erscheinen wird. Denn es gibt eine testamentarische Verfügung, in der Foucault posthume Veröffentlichungen ausschließt. Das war immer ein Schmerz. Allerdings haben die Erben eine rechtliche Lücke im Testament gefunden, und jetzt ist dieses letzte Buch also doch noch erschienen – mehr als drei Jahrzehnte nach Foucaults Tod. Die "Geständnisse des Fleisches" sind nicht so knallig oder hitzig wie andere seiner Bücher. Der Titel ist saftiger als sein Inhalt. Es ist vor allem eine Lektüre von Autoren, die wir als Kirchenväter kennen.

Wie immer arbeitet Foucault historisch, aber seine Fragestellungen kommen aus der Gegenwart. Foucault hat mal von sich gesagt, sein Werk sei eine einzige Werkzeugkiste oder sogar ein Molotowcocktail. Dieses Buch hier ist kein Molotowcocktail, sondern das Wühlen im Werkzeugkasten. Ein Typ von Buch, das man nicht einmal nur verschlingt, sondern auf das man immer wieder zurückkommt. Für mich ist das ein Buch, weil ich von Foucault schon während des Studiums so viel gelernt habe wie von keinem anderen Autor. Und ich hab jetzt ein paar Tage und Wochen vor mir, in denen ich Ruhe habe, und werde ganz sicher da immer wieder reingucken.

Das Bild zeigt das Buchcover von "Middlemarch" sowie einen aquarellierten Hintergrund.
Wie fatal sich die ungleiche Verteilung von Reichtum auf das damalige Gemeinwohl auswirkte, zeigt Mary Ann Evans, die unter dem Pseudonym George Eliot berühmt wurde.© Rowohlt

George Eliot: "Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz"
Rowohlt, 2019
Neu übersetzt von Melanie Walz
1264 Seiten, 45 Euro

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Maike Albath: Falls Ihnen die Wirtschaftstheorie von Thomas Piketty zu abstrakt war, können Sie seine zentralen Thesen über die Folgen von ererbtem Reichtum auch anhand eines äußerst unterhaltsamen Romans nachvollziehen. Denn in George Eliots faszinierendem Provinzpanorama Middlemarch, 1870/71 im Original erschienen und jetzt in einer glänzenden Neuübersetzung von Melanie Walz herausgekommen, geht es genau darum: Die englische Autorin analysiert die Klassengesellschaft um 1830, erläutert die Folgen der Industrialisierung und zeichnet die Schwierigkeiten des aufsteigenden Bürgertums nach, zu Geld zu kommen.

Vor allem zeigt sie, wie fatal sich die ungleiche Verteilung von Reichtum auf das Gemeinwohl auswirkte. Verblüffend aktuell klingen die Argumente derjenigen, die ihre Pfründe bewahren wollen. Ein idealistischer Arzt, der fortschrittliche Methoden vertritt, muss kläglich scheitern. "Eine Studie über das Leben in der Provinz" lautet der Untertitel des Romans – und tatsächlich hatte sich George Eliot, die ganz bewusst unter einem Männernamen publizierte und gerade ihren 200. Geburtstag feierte, für ihr Hauptwerk sowohl in Wirtschaftswissenschaft als auch in Rechtstheorie und Medizin eingearbeitet. Amüsanter und lehrreicher kann eine Lektüre nicht sein.

"Die Dinge unseres Lebens" von Susanne Mayer
Unschön werden hier die Familiengeheimnisse gelüftet.© Berlin Verlag

Susanne Mayer: "Die Dinge unseres Lebens. Und was sie über uns erzählen."
Berlin Verlag, 2019
304 Seiten, 20 Euro

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Shelly Kupferberg: In jeder Familie gibt es Geheimnisse und unerzählte Geschichten. Sie zu lüften, egal, wie schmerzhaft und unschön diese Geheimnisse sind, birgt eine riesige Chance – das erlebe ich so auch in meiner Familie. Und mich begeistert, wie offen und ehrlich die Autorin mit den ambivalenten Gefühlen umgeht, die sie durchlebt, wenn sie das Haus ihrer Eltern ausräumt. Es geht nicht nur darum, die eigene Familie neu zu sehen und zu verstehen oder auch nicht zu verstehen.
Man kann sich der Vergangenheit immerhin stellen und damit arbeiten. Und das macht Susanne Mayer auch. Das alles zu lüften, wirkt klärend. Und letztlich bekommt auch die Geschichte, die Historie als solches auf diese Weise eine plastische, fast haptische Seite. Viel deutlicher, als wenn man nur in Geschichtsbüchern darüber liest.

"Gastfreundschaft" von Priya Basil
Die Texte enthalten sehr persönliche, manchmal sogar intime Passagen.© Insel-Bücherei

Priya Basil: "Gastfreundschaft"
Insel-Bücherei, 2019
134 Seiten, 14 Euro

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Florian Felix Weyh:
Wenn Priya Basil über die "Gastfreundschaft" schreibt, dann geht es ihr dabei ganz viel ums Kochen, ums Essen, und um Welterfahrung durch gemeinsamen Genuss. Unter dem Oberthema "Gastfreundschaft" erzählt sie weitläufig, frei, offen für Assoziationen. Sie erlebt die Welt durch den Körper, durchs Essen. Das ist quasi familiär gesetzt, denn sie entstammt einer Genießerfamilie.
Die Texte enthalten sehr persönliche, manchmal sogar intime Passagen, die eine ganz enge Beziehung mit dem Leser, der Leserin aufbauen – so was schaffen wirklich nur großartige Texte. Und die durchzieht sie mit politischen, philosophischen, gesellschaftlichen Reflexionen. Über Ausgrenzungserfahrungen und Angst, über Demokratie und Freiheit, über Religion, Toleranz, Altruismus. Das aber nie akademisch, sondern eben im Tonfall der Essayistin, die sich vorantastet, sie verkündet keine Wahrheiten, aber sie schreibt tolle Denk-Sätze, über die man wirklich sinnieren kann. Großartige Literatur!
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