Sachbuch

Folgenschwere Fehler im System

Von Susanne Billig |
In Deutschland sterben pro Woche drei Kinder an den Folgen von Misshandlungen. Die Rechtsmediziner berichten von brutalen Fällen sowie Verfehlungen in Politik und Justiz - und packen ihr Buch zudem randvoll mit Reformvorschlägen.
"Die Familie kümmert sich fürsorglich um den kleinen Mirko“, schrieb die Familienhelferin erfreut an das Jugendamt. Wenige Wochen später findet ein Nachbar den dreijährigen Jungen nackt und verdreckt in einem Verlies im Keller des Hauses. Nur zu den - stets angekündigten - Besuchen der Familienhelferin war er hervorgeholt worden. Anschließend stießen ihn seine Eltern wieder in den Keller. Mirkos Geschichte ist nur eine von vielen in dem aufwühlenden Buch "Deutschland misshandelt seine Kinder“ von Saskia Guddat und Michael Tsokos.
Die beiden Berliner Rechtsmediziner untersuchen täglich Kinder und Jugendliche auf Spuren von Gewalt. Und was sie - dicht und erfahrungsgetränkt - aus ihrem Berufsalltag berichten, ist unfassbar: Naive Kinderärzte, die sich jahrelang von brutalen Eltern erzählen lassen, ihre von Hämatomen übersäten Kinder spielten "ein bisschen wild“. Richter, die rechtsmedizinische Beweise für schwerste absichtliche Verbrühungen lapidar vom Tisch fegen: "Aber die Mutter ist doch Akademikerin“. Überforderte und unterbezahlte Familienhelfer, die sich jahrelang ein gesundes Kind vorführen lassen - und nicht bemerken, dass sie einen Zwilling vor Augen haben, dessen Geschwister nebenan misshandelt vor sich hin vegetiert.
Konkrete Handlungsvorschläge
In Deutschland sterben pro Woche drei Kinder an den Folgen von Misshandlungen, 70 weitere Kinder müssen ärztlich behandelt werden. Doch die Mediziner prangern nicht nur an, sie packen ihr Buch auch randvoll mit Reformvorschlägen: Jugendämter sollten von ihrem gesetzlich verbrieften Recht als Wächter des Kindeswohls endlich Gebrauch machen und Kinder schneller von ihren Peinigern trennen. Helfer, Richter, Staatsanwälte müssten dringend rechtsmedizinisch geschult werden, um die klaren Zeichen chronischer Misshandlungen zu erkennen.
Es müsste mehr Kinderschutzambulanzen geben, eine Leichenschaupflicht bei minderjährigen Verstorbenen, eine bessere Bezahlung der Familienhelfer und eine Evaluierung ihrer Hilfsmaßnahmen. Außerdem Krippen und Kitas nach hohem skandinavischem Standard und die Abschaffung des Betreuungsgeldes. Zudem sollten misshandelnde Eltern einander vor Gericht nicht länger gegenseitig decken können. Der beliebte Trick führe häufig aus Mangel an Beweisen zum Freispruch und die Täter spazieren mit ihrem malträtierten Kind unbehelligt aus dem Gerichtssaal. Richterinnen und Richter sollten sich endlich auf den Paragrafen 13 des Strafgesetzbuches besinnen und solche Eltern wegen Unterlassung belangen.
Kompromisslos stellen sich die engagierten Rechtsmediziner auf die Seite der Opfer und Koautor Andreas Gößling hat ihrem eindringlichen Appell eine klar strukturierte, bestens recherchierte und packende Sachbuchform verliehen, selbst wenn seine Sprache mitunter allzu plakativ gerät. Auch der Titel übertreibt. Deutschland misshandelt seine Kinder? Ja, im 19. Jahrhundert. Heute stimmt das so nicht mehr. Doch jedes gepeinigte Kind ist eines zu viel und dieses Buch weist überzeugend auf die Fehler im System hin.

Michael Tsokos/Saskia Guddat: Deutschland misshandelt seine Kinder
Droemer Knaur Verlag, München 2014
256 Seiten, 19,99 Euro

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