Sachbuch

Häuserzeile mit Geschichte

Von Vera Linß |
Für "Ruhige Straße in guter Wohnlage" hat Pascale Hugues den Mikrokosmos ihrer Berliner Nachbarschaft erforscht. Mutig und einfühlsam hat die französische Journalistin auch an den Wohnungstüren ihres Kiezes nicht haltgemacht.
Es ist eine kurze, unspektakuläre Straße in der Mitte Berlins. Entstanden kurz nach der Jahrhundertwende als Prunkstück wilhelminischer Baukunst, ist heute nicht viel von ihr übrig. Zwei Drittel der Häuser wurden zerbombt, schmucklose Zweckbauten der Nachkriegszeit raubten ihr fast den Rest ihrer Seele. Diese Straße ist typisch deutsch, zu finden in jeder Stadt dieses Landes. Tausendmal läuft man gedankenlos hindurch. Doch mit dem Buch von Pascale Hugues könnte sich das ändern.
Der französischen Journalistin, die seit 17 Jahren in Berlin zu Hause ist, hat es die Straße, in der sie lebt, angetan: eine Straße, die so ganz anders ist, als sie es vom unversehrten Paris kennt. Dieses Stück Berlin ist hässlich, voller Narben und Brüche, keine Liebe auf den ersten Blick. Aber gleichzeitig ist sie, das erkennt die Französin schnell, ein Spiegelbild (unheilvoller) deutscher Vergangenheit, in dem sich ein Mikrokosmos menschlicher Schicksale verbirgt. Ideal für die Zugezogene, um die Eigenheiten ihrer Wahlheimat zu studieren und zu entschlüsseln.
Genau das nimmt sich Pascale Hugues in ihrem Buch vor. Mit Erfolg. Meisterhaft und auf ansteckende Weise gelingt es ihr, "ihre" Straße zum Sprechen zu bringen. Akribisch mustert sie zunächst jedes Detail: Laternen, Litfaßsäulen, ein paar Läden, den "kochschinkenfarbenen Wohnungsbaublock", die wenigen erhaltenen Altbauten. Alles wirkt auf den ersten Blick geschichtslos. Doch sie gräbt tiefer, wühlt sich durch staubige Archivakten. Zurück zu dem Zeitpunkt, an dem ehrgeizige Bauherren im aufstrebenden Kaiserreich prächtige Häuser mit riesigen Wohnungen für die gehobene Gesellschaft entstehen lassen – gebaut "für die Ewigkeit".
Architektur und Lebensgeschichten
Bis ins Heute rekonstruiert sie – soweit möglich – die sich verändernde Architektur ihrer Straße. Besonders berührend aber sind die Geschichten der Bewohner, die Hugues aufwendig recherchiert hat. Etwa die der Jüdin Lilli Ernsthaft, die den Holocaust überlebt – und nach dem Krieg entwürdigende Prozesse um ihren ehemaligen Besitz führen muss. In der Nähe von Haifa besucht die Journalistin Miriam Blumenreich, Tochter aus gutem Hause, deren Flucht vor den Nazis die Familie in bittere Armut gestürzt hat: "Die 7-Zimmer-Wohnung in Berlin ist nur noch eine seltsame Erinnerung." Zu Wort kommt Joachim Bickenbach, dessen Mutter kurz vor Kriegsende ihre einzige große Liebe verliert und nie wieder glücklich wird. Oder Frau Soller, die nach 38 Jahren ihre Mietwohnung verlassen muss. Der Eigentümer will verkaufen.
Nicht hinter jeder Wohnungstür steckt eine Story. Dennoch schafft es Pascale Hugues, über die einzelnen Schicksale eine große Geschichte zu erzählen. Beeindruckend, wie einfühlsam und mutig sie dabei vorgeht und sich auch traut, eine Frau wie Lilli Ernsthaft nach der dunkelsten Zeit ihres Lebens zu fragen. Diese hatte ihre schmerzhaften Erinnerungen längst tief in sich verschlossen. Den Namen der Straße in Berlin-Schöneberg verrät die Französin übrigens nicht.

Pascale Hugues: Ruhige Straße in guter Wohnlage. Die Geschichte meiner Nachbarn
Aus dem Französischen von Lis Künzli
Rowohlt Verlag, Reinbek 2013
320 Seiten, 19,95 Euro

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