Sachbuch "Mode und Revolution"

Die Couture der klassenlosen Gesellschaft

08:44 Minuten
Sportanzug-Entwürfe von Varvara Stepanova.
Funktional sollte die Kleidung in der Sowjetunion sein: Sportanzug-Entwürfe der russischen Künstlerin Varvara Stepanova. © Ciconia x Ciconia / Varvara Stepanova
Von Carsten Probst · 14.04.2020
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Nylonstrümpfe, Jeans, Bikini: Sie haben den Blick auf den Körper und das gesellschaftliche Miteinander revolutioniert. Aber auch politische Umbrüche können ihren Niederschlag in Kleidungstrends finden. Das beleuchtet das Buch "Mode und Revolution".
Es gibt wohl nichts, das eine Revolution weniger sein will als eine Modeerscheinung. Revolutionen wollen dauerhafte Erneuerung, keine kurzlebigen "Wellen". So wurde den 68er-"Revoluzzern" von ihren Gegnern vorgeworfen, dass sie "in Mode" seien, mit anderen Worten: viel Rauch um nichts.
Doch ganz so einfach ist es wohl doch nicht: Denn Revolutionen haben umgekehrt durchaus Folgen für den Lifestyle, viele Revolutionen entwerfen bestimmte Codes von Zeichen, und durch die Gestaltung von Alltagsgegenständen oder Gebrauchskleidung lässt sich die revolutionäre Idee vielleicht am wirksamsten ins Leben tragen.
So begründeten es etwa Gestalter im Geist der künstlerischen Avantgarden nach der russischen Revolution von 1917. Auch wenn die russische Revolutionsästhetik ihrerseits schon auf zahlreiche Ideen der modernen Avantgardekunst in ganz Europa zurückgriff, konnte sie doch offenkundig aus der Ästhetik eine politische Idee ableiten.

Industrielle Fertigung anstelle von Handarbeit

Das lässt sich in dem von Dmitri Dergatchev und Wladimir Velminski zweisprachig auf Russisch und Deutsch herausgegebenen Band "Mode und Revolution" anhand historischer Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gut nachvollziehen. Die russische Künstlerin und Gestalterin Varvara Stepanova beschreibt in ihren zeitgenössischen Texten aus den 1920er-Jahren, wie die Gestaltung von Alltagskleidung dem neuen Ideal von Funktionalität und einer klassenlosen Gesellschaft folgt.
"Bei der Herstellung des heutigen Anzugs", so schreibt sie, "sollten ihm nicht die am Anzug befindlichen Verzierungen, sondern die für den Schnitt erforderlichen Nähte die Form verleihen". Und: "Die primitiven handwerklichen Nähte gibt es nicht mehr, es ist die industrielle Naht der Nähmaschine, die ihn des Zaubers der individuellen Handarbeit beraubt."
Mit anderen Worten: Handgenähte Maßanzüge sind rückwärtsgewandte Ideologie, industriell gefertigte Kleidung wird den Erfordernissen der Gegenwart gerecht – und sie besteht nur noch aus zwei Typen: Produktionskleidung und Arbeitsanzug.
Varvara Stepanova an ihrem Schreibtisch.
Folgte dem Ideal von Funktionalität und einer klassenlosen Gesellschaft: die russische Künstlerin und Gestalterin Varvara Stepanova.© Ciconia x Ciconia / Alexander Rodtschenko
Der Kulturtheoretiker und Futurist Ossip Brik ruft 1924 zu einer Angleichung von Malerei und Alltagsgestaltung auf, wodurch sich die Vereinigung von Kunst und Leben unter der Maßgabe der neuen Industrieproduktion vollziehen soll. Auch hier gilt: künstlerisches Handwerk? Nichts als Ideologie. Allerdings fragt sich natürlich, ob der Begriff der Mode hier im engeren Wortsinn eigentlich noch angebracht ist, da es ja den Revolutionären erkennbar um ganz grundsätzliche Veränderungen ging. Was hier als Mode bezeichnet wird, wirkt doch eher wie ein ästhetisches Programm. Zwar hat sich diese avantgardistische Ästhetik in der stalinistischen Ära auch nicht halten können, aber auch da kann man nicht davon sprechen, dass eine Modewelle die andere abgelöst hätte, ohne zynisch zu werden.

Sozialistische Lifestyles werden modisch zitiert

Insofern ist es bemerkenswert, dass der Moskauer Kunstphilosoph Pavel Pepperstein daran erinnert, dass durch den Zusammenbruch der Sowjetunion wiederum eine Wende in der Mode eingeläutet - und erst dadurch eigentlich der Sozialismus "Mode" wurde.
Dieses Ereignis, das zumindest im Westen auch immer gern als "friedliche Revolution" bezeichnet wurde, führte dazu, dass vorherige sozialistische Lifestyles vermehrt modisch zitiert wurden. Für Pepperstein geht es damit eigentlich nur noch um "die Mode der Mode", um das Zitat, das seinerseits eine Mode geworden ist, ohne dass aber das Design, das eine Person am Körper trägt, selbst noch etwas ausdrücken wolle.
Die Models, die diese Mode auf den Laufstegen vorführen, sind somit, laut Pepperstein, "zu Prinzessinnen des Schweigens" geworden, zu Engeln, die zwar im Gegensatz zur christlichen Überlieferung "zum Sex fähig sind, aber – wie die Meerjungfrau aus Andersens Märchen – zum Schweigen verdammt".
Die Folgen der "friedlichen" Revolution könnte demnach das Verstummen von Kunst und Design und überhaupt der ach so zitierfreudigen, "unpolitischen Kinder der Freiheit" sein.

Viel Raum zum Weiterdenken

Der wie immer beim kleinen Berliner Ciconia Ciconia Verlag schön und liebevoll gestaltete Band ist reich bebildert: Nicht nur mit historischen Beispielen, sondern auch mit vielen Zwischenteilen, in denen heutige Künstlerinnen und Künstler, Designerinnen und Designer Revolutionäres und Modisches witzig und manchmal überaus zitierfreudig aus heutiger Sicht aufeinanderprallen lassen.
Und sind nicht auch manche Revolutionen des Alltags von Mode ausgelöst worden? Die essayistische Form der Aufsätze vermeidet gezielt den Charakter von Standardwerken zu diesem Thema und lässt damit viel Raum zum eigenen Nach- und Weiterdenken.

Dmitri Dergatchev, Wladimir Velminski (Hrg.): "Mode und Revolution"
Mit Beiträgen unter anderem von Varvara Stepanova, Ossip Brik, Pavel Pepperstein
Ciconia Ciconia Verlag, Berlin 2020
236 Seiten, 35 Euro

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