Sachbuch

Operieren am offenen Gehirn

Illustration eines menschlichen Gehirns von der Seite.
Oft fällt die Entscheidung schwer. Ist eine die riskante Gehirn-OP notwendig? © imago/CHROMORANGE
Von Michael Lange |
Der englische Hirnchirurg Henry Marsh feiert in seinem Fach große Erfolge. In seinem Buch "Um Leben und Tod" erzählt er vom Heilen, Hoffen und Scheitern. Und er thematisiert auch ein eigenes Leiden: die Überheblichkeit.
Im Gegensatz zu vielen seiner Fachkollegen besitzt Henry Marsh die Gabe, anschaulich, lebendig und mit großer Offenheit über seine Arbeit und sein Leben zu schreiben. Als erfahrener Hirnchirurg feiert er einzigartige Erfolge. So gelingt ihm eine Operation, bei der er das Augenlicht einer jungen Schwangeren rettet und kurz darauf kommt ein gesundes Baby zur Welt. Am gleichen Tag reißt während der Operation ein Blutgefäß im Gehirn einer Tumorpatientin. Alle Bemühungen sind vergebens. Die Patientin war Mitte 50 und ihr Mann sagt weinend: "Wir dachten, wir hätten noch so viel Zeit zusammen." Henry Marsh wagt es nicht, ihm in die Augen zu schauen.
Jedes Wort des Operateurs ist machtvoll
Die größte Belastung für den Hirnchirurgen sind die ständigen Entscheidungen. Ist eine Operation notwendig? Ist das Risiko für den Patienten akzeptabel? Der Chirurg weiß: Einfach dem eigenen Wunsch zu folgen, einem Patienten zu helfen, kann in die Irre führen. Manchmal ist nichts zu tun, der bessere Weg. Auch wenn letztlich der Patient und seine Angehörigen entscheiden, jedes Wort des Operateurs ist machtvoll. Sachliche Informationen sind oft weniger relevant als die Zuversicht, die er ausstrahlt. Und ein erfahrender Arzt wie Henry Marsh weiß, wie belastend das Vertrauen seiner Patienten sein kann.
Verantwortung führt nicht selten zu Überheblichkeit
Die Verantwortung eines Hirnchirurgen erfordert Selbstbewusstsein und führt nicht selten zu Überheblichkeit. Henry Marsh ist nicht frei davon. Seine erste Ehe sei daran zerbrochen, bekennt er freimütig. Der Wechsel zwischen Operationstisch und Alltag stellen ihn und seine Kollegen immer wieder auf die Probe. So regt er sich auf, wenn er – der große Hirnchirurg – wie alle anderen an der Supermarktkasse warten muss, wenn er sich mit nervigen Formularen der Krankenhausbürokratie abmühen muss oder wichtige Lebenszeit mit der Suche nach Computer-Passwörtern verliert. Manchmal fällt es ihm schwer, seinen Patienten zuzuhören, und er blickt gedankenverloren aus dem Fenster.
Henry Marsh ist kein mürrischer Besserwisser wie "Doktor House" aus der gleichnamigen Fernsehserie, aber auch kein mitfühlender Patienten-Versteher wie der Neurologe und bekannte Sachbuchautor Oliver Sacks. Was ihn auszeichnet, sind seine gute Beobachtungsgabe und seine Offenheit. Und allein schon deshalb sind die wahren Geschichten aus dem Leben eines Hirnchirurgen informativer als viele medizinische Sachbücher und unterhaltsamer und bewegender als jeder Arztroman.

Henry Marsh: "Um Leben und Tod"
Ein Hirnchirurg erzählt vom Heilen, Hoffen und Scheitern
aus dem Englischen von Katrin Behringer, DVA, München 2015
352 Seiten, 19,99 Euro

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