Aleida Assmann: "Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne"
Hanser Verlag, München 2013
334 Seiten, 22,90 Euro
Ordnung der Zeit
In ihrem neuen Buch trägt die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann aus Schriften von Historikern, Philosophen und Literaten Erklärungen dafür zusammen, wie sich unsere moderne Zeit herausgebildet hat.
"Ist die Zeit aus den Fugen?" - auch wenn der Titel von Aleida Assmanns jüngstem Buch so klingen mag, das Buch der 1947 geborenen Literaturwissenschaftlerin ist kein Ratgeber zum Thema Be- und Entschleunigung und auch keine populäre Geschichte der Zeit, wie der Untertitel "Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne" annonciert. Die Konstanzer Professorin hat sich, zusammen mit ihrem Mann Jan Assmann, einen Namen als Erinnerungsforscherin gemacht. Ihr geht es um die Historisierung kultureller Zeittypen. Zu diesem Zweck trägt sie aus den Schriften von Historikern, Philosophen und Literaten Erklärungen dafür zusammen, wie sich unser modernes Zeitregime herausgebildet hat.
Monotheistische Wende
Der Ausgangspunkt von Assmanns Literaturbericht ist die "markante Verschiebung des Akzents von der Zukunft auf die Vergangenheit" in der Erfahrung und dem Empfinden von Zeit. In der jüngsten Hinwendung zur Vergangenheit und der Skepsis gegenüber der Zukunft sieht sie eine Abkehr vom Modernitätsparadigma, das sich um 1770 gebildet hat. In dieser "Sattelzeit" (Reinhart Koselleck) sieht sie den Ursprung des "modernen Chronotopos" (Michail Bachtin): die Abgrenzung der drei Zeitstufen. Assmanns Re-Lektüre von Baudelaire bis Burke, von Hegel bis Luhmann legt frei, wie die Begriffe "Geschichte" und "Zukunft" entstanden, und es zu der "Trennung von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont" kam: Die Historiker kümmern sich um die Geschichte. Die Gesellschaft blickt in die Zukunft. Die wichtigste Ursache dafür sieht Assmann in der monotheistischen Wende, dem "Urknall der Modernisierung".
Spätestens seit dem Epochenbruch 1989/90 ortet Assmann eine "Kontinentalverschiebung im Gefüge dieser Zeitzonen". Mit dem Kollaps des bipolaren Systems nach dem Zerfall der Sowjetunion, der Erfahrung der moralischen und ökologischen Grenzen des Fortschritts sei an die Stelle der Zukunft die Apokalypse getreten. Zudem sehe sich der Westen durch die aufsteigenden Kulturen in Fernost und im Süden relativiert. An die Stelle der Projektion in die Zukunft sei nun die reflexive "Aneignung der Vergangenheit" in Form von Kommemoration und Symbolisierung gerückt.
Normalisierung der Zeit
Assmann ist keine Kulturpessimistin. Das von anderen Wissenschaftlern beklagte Überhandnehmen der "breiten Gegenwart” (Hans-Ulrich Gumbrecht) der digitalen Ära oder einer "Übermacht der Vergangenheit" (John Torpey) in Form einer ausufernden Erinnerungskultur macht ihr keine Angst. In dem zeitweiligen Ausschlag des Zeitpendels in die eine oder andere Richtung sieht sie nur die Normalisierung eines Zeitregimes, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft allzu rigide voneinander trennte.
Wie das "offene Abenteuer", die "drei Zeitstufen neu zu ordnen und in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen", zu bewerkstelligen wäre, lässt Assmann offen. Aber zumindest die Aufgabe hat sie formuliert. Und dass es neben der abstrakten naturwissenschaftlichen Linearzeit auch eine kulturell konstruierte Zeit gibt, ist eine weitere wichtige Erkenntnis aus diesem anspruchsvollen Buch.