Ernst Peter Fischer: Die Verzauberung der Welt. Eine andere Geschichte der Naturwissenschaften
Siedler Verlag, München 2014
336 Seiten, 24,99 Euro
Plädoyer für das Staunen
Naturforscher haben die Welt nicht entzaubert, im Gegenteil: Sie öffnen uns erst die Augen für ihre Geheimnisse. Ernst Peter Fischers Buch "Die Verzauberung der Welt" wirbt für eine Wissenschaft im Geist der Romantik.
Warum fliegt ein Flugzeug? Ungeachtet des regen internationalen Luftverkehrs, ist unter Physikern nach wie vor umstritten, wie genau Tragflächen und Luftströmungen dabei zusammenwirken. Wie entsteht ein Blitz? Weshalb führt ein Kinnhaken zum K. o.? Auch auf diese Fragen geben Wissenschaftler widersprüchliche Antworten – auch deshalb hält Ernst Peter Fischer die weit verbreitete Ansicht, dass Forscher Rätsel der Natur endgültig lösen können, für einen Irrglauben.
Nicht Naturwissenschaftler haben die Welt entzaubert, so der Wissenschaftshistoriker, sondern Lehrer und Journalisten. Im Unterricht und in Berichten über Forschung werde seit langem der Eindruck erweckt, dass Experimente und Berechnungen der Natur ihre Geheimnisse abtrotzen. Dabei erscheine die Welt bei näherer Betrachtung umso rätselhafter, weil jede Erkenntnis neue Fragen nach sich ziehe. "Es gibt kein Ende des Wunderns", schreibt Fischer, denn: "Wissenschaft verwandelt eine geheimnisvolle Natur in eine mysteriöse Erklärung."
Ernst Peter Fischer möchte das Mysterium erhalten. Sein Buch ist ein engagiertes Plädoyer für das Staunen. Dabei beruft er sich auf namhafte Fürsprecher. Albert Einstein bezeichnete das Geheimnisvolle als "Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Wissenschaft und Kunst steht". Wer die Naturwissenschaften auf rationale Zahlenspiele reduziert, droht dieses Gefühl zu verlieren. Fischer fordert deshalb eine Pädagogik, die auf die Neugierde und auf die eigenen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler setzt. Er gibt konkrete Anregungen für einen lebendigen Physik- und Biologieunterricht und unterbreitet Vorschläge für bisher noch ungeschriebene Wissenschafts-Romane.
Fischer möchte Natur- und Geisteswissenschaften versöhnen
Auch der britische Physiker und Schriftsteller Charles Percy Snow beklagte schon 1959 die Kluft zwischen den "zwei Kulturen" der Natur- und Geisteswissenschaften. Fischer möchte die beiden Disziplinen versöhnen, indem er an ihre gemeinsamen Wurzeln in der Romantik erinnert. Dass elektromagnetische Felder, infrarotes und ultraviolettes Licht gerade in dieser Kulturepoche entdeckt wurden, war sicher kein Zufall, vermutet der Autor. Die Vorstellung von derart unsichtbaren Kräften wäre zu anderen Zeiten wohl abwegig erschienen. Mit der Überzeugung romantischer Dichter und Denker, dass dem äußeren Sehen ein inneres Schauen entspricht, war sie ohne weiteres vereinbar.
Ernst Peter Fischers "andere Geschichte der Naturwissenschaften" wirbt für eine Rückbesinnung auf den Geist der Romantik. Er rückt Physik und Biologie bewusst in die Nähe von Philosophie und Literatur. Analog zu den Werken der Schriftsteller versteht er ihre Theorien als "freie Erfindungen" und kreative Äußerungen, die immer wieder neu bewertet werden müssten. Forscher sind für ihn keine bloßen Faktensammler, sondern im besten Fall Erzähler, die die Welt "durch ihre Deutungen verzaubern".
In seinem Bestseller "Die andere Bildung" kämpfte Fischer bereits 2003 für einen Kanon, zu dem neben Shakespeare und Goethe auch Faraday und Heisenberg gehören. Und auch jetzt setzt er sich für eine naturwissenschaftliche Bildung ein, die Geheimnisse nicht wegerklärt, sondern den Forschergeist zu wecken weiß, der Wissenschaft von jeher antreibt.