Sachbuch-Preis für Harald Jähners "Wolfszeit"

Die Deutschen wollten verdrängen und feiern

08:33 Minuten
Preisverleihung auf der Leipziger Buchmesse am 21.3.2019: Der Preisträger in der Kategorie Sachbuch Harald Jähnermit einem Blumenstrauß.
Harald Jähner wurde in Leipzig für seinen Blick zurück auf die Nachkriegszeit geehrt: "Ich habe am Ende sogar schwarzweiß geträumt." © Christian Spicker/Imago
Moderation: Dieter Kassel |
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Harald Jähner hat den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse erhalten. In "Wolfszeit" beschäftigt er sich mit der Zeit unmittelbar nach dem Krieg bis hinein in die frühe Bundesrepublik − mit überraschenden Ergebnissen.
Harald Jähner ist mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch ausgezeichnet worden. In seinem Buch "Wolfszeit" beschäftigt er sich mit der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland, mit den Jahren 1945 bis 1955.
"Ich wollte einfach wissen, wie die Deutschen damals mit der Niederlage klargekommen sind, wie sie mit der Schuld klargekommen sind, die sie auf sich geladen hatten, wie sie mit der Anarchie klargekommen sind, vor allem, weil ihnen das ja nun gar nicht liegt", sagte Jähner nach der Preisverleihung im Deutschlandfunk Kultur.

Das suspekte Interregnum

Jähner beleuchtet in seinem Buch auch die Jahre unmittelbar nach dem Krieg, 1945 bis 1947, die im Vergleich zur NS-Zeit und den ersten Jahren der Bundesrepublik von Historikern deutlich weniger beschrieben worden sind:
"Die drei Jahre liegen den Deutschen nicht, auch nicht der Geschichtsschreibung, die immer noch zu einem großen Teil eine Nationalgeschichtsschreibung ist", sagte Jähner. "Die hört 1945 auf, die Geschichte des Dritten Reiches, und dann beginnt die Geschichte der Bundesrepublik 1949 – und dieses Interregnum dazwischen, dieses Besatzungsregime, in der die Deutschen nicht das Subjekt ihrer Geschichte waren, das ist der deutschen Geschichtswissenschaft offenbar ein bisschen suspekt."

Eine Zeit des Feierns

Jähner betreibt Alltagsgeschichte und kommt zu überraschenden Ergebnissen − die Zeit von 1945 bis 1947 sei auch eine Zeit des Feierns gewesen für die Deutschen, stellte er fest. Die Gründe: Die Deutschen waren dem Krieg entronnen. Zugleich sei unklar gewesen, was nun kommt:
"Das führt zu einer gesteigerten Lebensintensität. Man will dann wenigstens diesen Tag, den man erlebt, genießen. Es gab ein ungeheures Freiheitsgefühl, die Lust, auf den Putz zu hauen."
Im Vordergrund das Cover von Harald Jähners "Wolfszeit", im Hintergrund eine undatierte Aufnahme der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Innenstadt von Köln
Harald Jähner zeichnet in "Wolfszeit" ein umfassendes Stimmungsbild im Nachkriegsdeutschland.© Rowohlt Verlag/ dpa picture alliance/ Royal Air Force
Allein in Berlin habe es unmittelbar nach Kriegsende über 50 Tanzclubs gegeben, so Jähner; durch Köln sei 1946 ein spontaner Rosenmontagszug gezogen. Allerdings wollten sich später wohl wenige an diese Zeit der Lebensfreude erinnern:
"Im Nachhinein standen die Leute nicht dazu, dass sie soviel gefeiert hatten. Insofern ist unser Bild der Nachkriegszeit immer düsterer, als es in Wirklichkeit gewesen ist. Es ist natürlich düster, aber diese Zeit ist voller Paradoxien und Ambivalenzen. Und neben dem Entsetzen gab es auch ein überraschenden Glücksgefühl."

Die Deutschen wollten selbst Opfer sein

Die Deutschen verdrängten die NS-Zeit, die Verbrechen. "Das spielte eine Riesenrolle", sagte der Autor. "Aber die Deutschen verdrängten nicht nur ihre Verbrechen in der NS-Zeit, sie verdrängten später auch genau diese Phase des Spaßes, des Freiheitsgefühls, des Aufbruchs in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sie wollten sich hauptsächlich als Opfer verstehen und verdrängten damit die realen Opfer."
Er habe sich bei seinen Recherchen weniger auf Zeitzeugen gestützt, sondern die vielen zeitgenössischen Quellen genutzt: "auf Zeitungen, auf Tagebücher, auf Illustrierte, auf Filme, auf Schlager – ich habe am Ende sogar schwarzweiß geträumt."
(mfu)

Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955
Rowohlt, Berlin 2019
478 Seiten, 26 Euro

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