Religion in Osteuropa
Schamanen, Juden, Buddhisten und Muslime: Christoph Schmidt, Professor für osteuropäische Geschichte, macht die Vielfalt der religiösen Landschaft Osteuropas deutlich - setzt dabei aber ein gewisses Vorwissen voraus.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende der Konfrontation zwischen Ost und West suchten Menschen ihr Heil in der Religion. In vielen Ländern Osteuropas kam damit etwas zurück, was von den Machthabern, die sich selbst Sozialisten nannten, systematisch bekämpft wurde.
"Zu sowjetischen Zeiten wurden Kirchen- und Geistesgeschichte systematisch vereitelt, wenn nicht verfolgt. Wer als russischer Historiker der Kirchengeschichte auch nach 1917 die Treue hielt, fand sich alsbald im Gulag wieder. Ein Fach stand auf dem Index - und starb aus."
Ein großer Gewinn ist es, dass Christoph Schmidt die Vielfalt der religiösen Landschaft Osteuropas deutlich gemacht hat. Es sind eben nicht nur die orthodoxen Kirchen. Auch wenn die die Wahrnehmung dominieren. Der Kölner Professor für osteuropäische Geschichte geht auf den Schamanismus ebenso ein wie auf Juden, Buddhisten und Muslime.
"Gab es denn einen 'russischen' Islam – oder hat ihn die Kontinuität russisch-sowjetischer Unterdrückung derart in den Untergrund getrieben, dass er als Glaubenserlebnis kaum ersichtlich wird? Diese Frage muss man vermutlich bejahen, allerdings gibt es eine Ausnahme, den Sufismus, der mit den christlichen Eremiten so manches gemein hat, so auch das Schicksal des ewigen Außenseiters."
"Die Einseitigkeit der Literatur trägt damit entscheidend dazu bei, das Bild des Islam zu verzerren, genauer gesagt zu unterschätzen: In Kazan steht die größte Moschee Europas, die Sowjetunion war der fünftgrößte von Muslimen bewohnte Staat und die islamische Geschichte Russlands ist älter als die orthodoxe."
"921 entsandte Almas, der Chan der Wolgabulgaren, eine Gesandtschaft nach Bagdad. Almas schlug dem Kalifen ein Abkommen vor: Wenn ihn der Kalif unterstütze, trete er zum Islam über. Wie kaum anders zu erwarten, ließ sich der Kalif Japher al-Muqtadir nicht lange bitten. Nachdem sein Botschafter Ibn Fadlan 922 die Residenz Bolgar am Zusammenfluss von Wolga und Kama erreicht hatte, schlossen sich die Wolgabulgaren der Umma an."
"Die Einseitigkeit der Literatur trägt damit entscheidend dazu bei, das Bild des Islam zu verzerren, genauer gesagt zu unterschätzen: In Kazan steht die größte Moschee Europas, die Sowjetunion war der fünftgrößte von Muslimen bewohnte Staat und die islamische Geschichte Russlands ist älter als die orthodoxe."
"921 entsandte Almas, der Chan der Wolgabulgaren, eine Gesandtschaft nach Bagdad. Almas schlug dem Kalifen ein Abkommen vor: Wenn ihn der Kalif unterstütze, trete er zum Islam über. Wie kaum anders zu erwarten, ließ sich der Kalif Japher al-Muqtadir nicht lange bitten. Nachdem sein Botschafter Ibn Fadlan 922 die Residenz Bolgar am Zusammenfluss von Wolga und Kama erreicht hatte, schlossen sich die Wolgabulgaren der Umma an."
Von den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geprägt
Tatarstan an der Wolga mit seiner Hauptstadt Kazan und seinen fast neun Millionen Einwohnern ist heute die Hochburg der Muslime in Russland. Außer Tatarstan ist vor allem der russische Nordkaukasus muslimisch geprägt. Allerdings wird dort die ureigene Form des Islam, der Sufismus, zunehmend durch radikale islamische Strömungen aus dem Arabischen Raum überschattet.
Alle Religionsgemeinschaften in Osteuropa sind natürlich von den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geprägt – dazu bringt Schmidt eindrucksvolle Zahlen.
"In soziologischen Untersuchungen trat für ganz Osteuropa bis 1998 eine dreifach abgestufte Säkularisation zutage, wobei sich die Kirche in Polen am besten erhalten konnte (94% der Bevölkerung glaubten an Gott). An zweiter Stelle kam die evangelische Kirche in Lettland (71%), gefolgt von der orthodoxen in Russland (52%). (...) Nimmt man auch den Islam hinzu, scheint sich die Säkularisierung auf mittlerem Niveau (wie in Lettland) zu bewegen, obwohl – und das ist bemerkenswert – Kazan wie die orthodoxe Kirche dem offiziellen Atheismus in dessen ganzer Länge seit 1917 ausgeliefert war.
2000 gaben 71% tatarischer Jugendlicher an, sich mit dem Islam zu identifizieren. Nur zehn Prozent sahen sich als nicht-muslimische Tataren bzw. 19% als nicht gläubig."
2000 gaben 71% tatarischer Jugendlicher an, sich mit dem Islam zu identifizieren. Nur zehn Prozent sahen sich als nicht-muslimische Tataren bzw. 19% als nicht gläubig."
Ausführlich beschäftigt sich Schmidt mit Polen. Dabei zieht er ein Plakat der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarność aus dem Jahr 1989 von Tomasz Sarnecki heran. Darauf der Sheriff aus dem Western "High Noon", der gegen eine Verbrecherbande in einer Kleinstadt kämpft.
"Gary Cooper als Marshall Will Kane lässt auf den ersten Blick zwar religiöse Bezüge vermissen; dennoch ist er ein potentieller Märtyrer, ein Held und Asket, der sich (hier entwaffnet) auf den Opfergang macht, um die Stadt ganz allein vor dem Bösen zu retten.
Auch wenn Sarnecki den Aufrechten ironisch postmodern in Szene setzt, das zentrale Kennzeichen des Helden ist doch über jede Verfremdung erhaben: Reine Angst.
Konvention, Feigheit und Verrat hat er als normal erlebt, ja befürchtet sie sogar von der Allernächsten („Do not forsake me oh my darlin'"). Dennoch überwindet er sich und bleibt mit höherem Beistand siegreich – ein neuer David, der Goliath zerschmettert und der Freiheit zum Durchbruch verhilft."
Parallele zu den Schamanen
Gewitzt zieht Schmidt nun eine Parallele zu den Schamanen, und damit zum Anfang seines Buches. Er beginnt die Religionsgeschichte Osteuropas nämlich in der Dordogne. Dort, in den Höhlen von Lascaux, entdeckten Kinder im September 1940 Zeichnungen von Schamanen.
"Trotz vieler Gemeinsamkeiten zwischen Gary Cooper und dem Schamanen von Lascaux benutzen doch beide verschiedenes Werkzeug: Der Schamane vertraut auf den Vogelstock, der Sheriff aber erwartet die Magie des Wahlzettels. Nur dieser Ritus kann dem Geistkämpfer Macht und Mehrheit verschaffen. Bis dahin bleibt Religion – wie in Lascaux – die Stärke der Schwachen. Zweierlei Werkzeug entspricht zweierlei Ziel. Der Schamane muss Blut vergießen, denn sonst scheint der Ritus erfolglos. Der Sheriff aber folgt einem anderen Gott und will Blutvergießen meiden."
Pilger, Popen und Propheten von Christoph Schmidt ist für interessierte Leser eine sicher gewinnbringende Lektüre. Wer Spaß an Gedankenspielen und überraschenden Verknüpfungen hat, der wir Freude haben. Das setzt allerdings ein gewisses Vorwissen voraus.
Christoph Schmidt: Pilger, Popen und Propheten
Eine Religionsgeschichte Osteuropas
Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn, April 2014
293 Seiten, 34,90 Euro, auch als ebook
Eine Religionsgeschichte Osteuropas
Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn, April 2014
293 Seiten, 34,90 Euro, auch als ebook