Sachbuch

Steilvorlage für Debatten

Von Eike Gebhardt |
Das gesellschaftliche Dogma der Gleichheit sei an allem schuld, lautet das Leitmotiv in Thilo Sarrazins "Der neue Tugendterror". Seine aktuelle Bestandsaufnahme ist oft hoch reflektiert – letztlich aber doch unausgegoren.
"Die freie Entfaltung der Menschen führt immer zur Ungleichheit" – mit solchen Sätzen wird Thilo Sarrazin fraglos den öffentlichen Aufschrei provozieren, auf den er es offenkundig abgesehen hat. Denn "Der neue Tugendterror" nimmt sich just diese Mechanismen vor: Wie die öffentliche Meinungsbildung, einst konzipiert als Willensbildung des gesamten Souveräns, des Volkes also, durch Medien, Ideologien, Kartelle gesteuert werden kann – und oft auch wird.
Was womöglich als Bestandsaufnahme der Reaktionen auf seinen Bestseller "Deutschland schafft sich ab" begann, wächst sich hier aus zu einem Grundsatz-Essay zur Geschichte und zu den gesellschaftlichen Bedingungen der Meinungsfreiheit, genauer: der Gedankenfreiheit. Gleichsam als Grundlage widmet Sarrazin ein ganzes Anfangskapitel den eigenen Erfahrungen – und lässt die Kommentare auf sein Werk Revue passieren, gern mit Hinweisen auf die vorherrschende Linksorientierung der meisten Journalisten (die er aus ihrer Selbstbeschreibung folgert) – eine "herrschsüchtige, ideologisierte Medienklasse".
Berechtigte Vorwürfe, angreifbare Argumentation
Um diese Klasse vorzuführen, konzentriert er sich freilich auf Nebenschauplätze wie Rassismus oder Genetik: da werde oft die Benennung gruppenbezogener Probleme zum Rassismus erklärt. Der Vorwurf ist nicht abwegig, aber Sarrazin macht seine eigene Argumentation angreifbar, weil er Wichtigeres weithin ausspart: Die Korrelation von sozialem Status und sozialen Problemen erwähnt er nur ganz nebenbei – "insoweit, als ein Mensch seine relative Einkommensposition als Aussage über seinen sozialen Rang interpretiert und als Beeinträchtigung seines Selbstwertgefühls erlebt". Eben – mit allen Folgen!
Das Kern-Dogma der Tugendterroristen sei das Gleichheitsideal, und zwar die Gleichheit der Ergebnisse statt der Chancengleichheit, wie er rügt: "Rousseaus Auffassung führte in Stalins Folterkeller." Dass "der Versuch zur Herstellung von Gleichheit ab einem gewissen Punkt die Freiheit nicht unbeschädigt lässt", ist ihm ein eisernes Axiom der menschlichen Natur – wie der Autor überhaupt gern anthropologische Konstanten beschwört, "menschliche Urgefühle" oder "Instinkt". Er sieht "Ungleichheit als Prinzip und Antrieb der Evolution"; "die Logik von Fortschritt und Entwicklung ... besteht ... in der Produktion stets neuer Ungleichheit durch Wettbewerb". Das ist eine kühne These – denn die einschlägige Forschung sieht als schöpferische Triebkraft in Wissenschaft und Gesellschaft etwas ganz anderes: die Unzufriedenheit mit den jeweils herrschenden Zuständen und Leitideen.
Gleichwohl berührt Sarrazin hier, wie an vielen Stellen, ungemein wichtige - auch politisch wichtige - Fragen:
"Weshalb sind bestimmte Kulturen zu bestimmten Zeiten so besonders fruchtbar, während andere es über lange Zeit nicht zu vergleichbar bedeutenden Leistungen bringen?"
Wichtigen Fragen, viele Willkürpositionen
Leider bietet er auf diese – auch in seinem Sinne - zentralen Fragen nicht einmal Hypothesen. So lässt er offen, warum bei ähnlichem genetischem Potenzial des Homo sapiens die von ihm oft betonten Unterschiede zutage treten. Sind die Umstände (Epigenetik!) doch wichtiger als die genetischen Anlagen, die er gern beschwört? Die kulturellen Konstellationen, die Entwicklungen förderten oder behinderten, sind eigentlich relativ gut untersucht, aber bei aller eindrucksvollen kulturhistorischen Belesenheit fehlen bei Sarrazin just die für eine fruchtbare Kontroverse hilfreichen Hinweise – vielleicht weil sie nicht in sein Weltbild passen?
Und warum spielt die Dynamik des Internets bei der Meinungs- und Willensbildung kaum eine Rolle? Ein Großteil der außerparlamentarischen und transmedialen Wertediskussion (Tugendterrorismus?) findet doch hier statt, mit der ganzen Aufgeregtheit und Kurzatmigkeit, die die elektronischen Medien produzieren.
Kurzum: Ein Buch auf oftmals hohem Reflexionsniveau, auch sprachlich spürt man meist: a mind in progress. Aber es ist unausgegoren: mit vielen Willkürpositionen (zur Ehe, zur Sprache, zur Evolution, und vieles mehr) und bisweilen fehlender Stringenz in der gedanklichen Analyse. Ohne Zweifel bietet es Steilvorlagen für erregte Debatten.

Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland
DVA, München 2014
400 Seiten, 22,99 Euro

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