Sachbuch

Sympathie für die Andersdenkende

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Verschleierte Frau: Soll man das Tragen einer Burka tolerieren? © picture alliance / dpa
Von Eike Gebhardt |
Mit großem historischem Wissen diskutiert Martha Nussbaum in ihrem Buch die Grundsatzfragen und Ambivalenzen des Toleranz-Ideals. Egal welche Position wir uns zu eigen machen, meint sie - Offenheit, Sympathie und Großzügigkeit sind unerlässlich.
"Erkenne dich selbst, damit du aus dir heraustreten kannst ..." – so fasst die global gerühmte Ethikerin, Philosophin und Juristin ihre Botschaft zusammen. Das Buch widmet sich zugleich den Grundsatzfragen und Ambivalenzen des Toleranz-Ideals.
Einer ihrer geschickten, leitmotivischen Schachzüge ist die häufige Gegenüberstellung Europas und der USA, also den historisch gewachsenen kollektiven Identitäten einerseits, der bewusst zusammengewürfelten Gesellschaft andererseits. Trotz ähnlicher Grundwerte (Gleichheit, Menschenwürde) habe Europa vor allem auf Assimilation und Trennung gesetzt, Amerika eher auf "gesetzliche Systeme, die auf Gerechtigkeit gegenüber Minderheiten (...) achten".
Ungeheures historisches Wissen
Nussbaums Stärke ist ein ungeheures historisches Wissen, einschließlich der zeitgenössischen Kontroversen, zum Beispiel über einen muslimischen, aber interreligiösen Gebetsraum neben Ground zero, oder über das Burka- beziehungsweise Kopftuchverbot mancher Länder. Wie bei allen anderen ihrer zahllosen Beispiele unterscheidet sie auch hier nachdrücklich rechtliche Themen von Fragen des Stils, des Respekts, der Empathie, letztlich also der Politik.
Was die rechtliche Seite angeht, sieht sie zwei unterschiedliche und meist einander ausschließende Ansätze. Der eine beruft sich auf John Locke. Er verlangt, zum Schutz der Gewissensfreiheit, "Gesetze, die religiösen Glauben nicht unter Strafe stellen, und Gesetze, die die religiöse Praxis nicht diskriminieren. Beide Gesetze müssen also auf jedermann in religiösen Belangen anwendbar sein." Ausnahmen wären ungerechtfertigte Privilegien. Die lateinische Sprache etwa in Kirchen zu verbieten, in Schulen aber zuzulassen, sei diskriminierend.
Dagegen stehe eine Tradition, die Nussbaum auf den Frühpuritaner Roger Williams zurückführt. Sie besagt, "dass den Minderheiten-Gläubigen" in bestimmten Fällen Ausnahmen gestattet sein sollten.
Behutsame Fallanalysen
Nussbaums Buch besticht einerseits durch behutsame Fallanalysen. Andererseits schlägt sie sich nicht eindeutig auf die eine oder andere Seite der konfligierenden Rechtsauffassungen. Die USA, Indien und Australien etwa "begreifen Zugehörigkeit in Begriffen gemeinsamer Ziele und Ideale und damit auf eine Weise, die nicht notwendig Homogenität verlangt – in Kleidung, Nahrungsgewohnheiten, religiösen Überzeugungen oder auch äußerlicher religiöser Observanz".
Man könnte meinen, Nussbaum suggeriere hier, dass Gruppen-Identität sich meist in solchen Äußerlichkeiten erschöpft. Doch als hätte sie darob ein schlechtes Gewissen, plädiert sie doch auch wieder für Ausnahmeregelungen und möchte diese entscheiden. Je nachdem, ob pragmatische soziale Regelungen gelten sollen – zum Beispiel was Werktage sind, wobei aber freitags der jüdische oder muslimische Polizist keinen Dienst schieben müsste – oder "zwingende staatliche Interessen".
"Welche intellektuelle Position wir auch immer bevorzugen", so ihr Credo, "müssen wir doch einen Geist der Neugierde pflegen, der Offenheit, der Sympathie und der Großzügigkeit unseren Nachbarn gegenüber".

Martha Nussbaum: Die neue religiöse Intoleranz
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2014
225 Seiten, 39,95 Euro