Sachbuch

Trickreiche Zauberei

Die Tendenz zum Unisex in der Kleidung verkennt laut Barbara Vinken die Reichtümer der Mode. Die Münchner Literaturwissenschaftlerin feiert mit teilweise elitärem Blick deren Sinnlichkeit und Ästhetik.
Das "Geheimnis der Mode". Dem Untertitel nach zu urteilen, ist Barbara Vinkens neues Buch soziologisch grundiert. Zumindest legen das die vorangestellten Worte der Autorin nahe. Das Buch sei allen Textilarbeiterinnen gewidmet, die "in den verschiedenen Wellen des Ruins der europäischen Textilindustrie ihre Arbeit verloren haben und bis heute in der globalen Verlagerung der Ausbeutung zu Tode kommen."

Doch um Soziologie geht es Barbara Vinken gerade nicht. Ihr Zugang zur Mode ist ein ästhetischer. "Mode denken" bedeutet für die 1961 geborene Literaturprofessorin aus München, ein Kleid so zu beschreiben, wie sie ein Gedicht analysiert. Wie ein literarisches Werk ist das Kleid ein intertextuelles Gebilde aus Zitaten, Interferenzen und Allusionen. Am Beispiel eines Kleides der japanischen Modeschöpferin Kawakubo illustriert Vinken ihre These, dass Mode nicht aus Zufälligkeiten entsteht, sondern dank bestimmter Strukturmerkmale vor allem zeitlichen Gesetzen folgt:

"Das Abendkleid aus der Winterkollektion von 1984 ist exemplarisch für die verstörende Uminterpretation, die Zersetzung und Rekonfiguration des Modesystems. In dem Abendkleid geht es um Falten, Nacktheit und Verhüllung. Durch eine verfremdete Neuinterpretation der Antike und ihrer klassizistischen Aneignung ist dieses Kleid so kunstvoller wie witziger Kommentar zur Idee der Verschleierung des Körpers."

Männer waren im 18. Jahrhundert das schöne Geschlecht
Vor allem der zweite Teil des Buches widmet sich an Beispielen der Kollektionen von Rei Kawabuko oder Alexander McQueen konkreten "Gedichtanalysen". Vorab gibt es theoretisches und historisches Handwerkszeug. Im Eingangskapitel "Der Mode auf der Spur: Eine etwas andere Geschichte der Mode" geht es zurück bis ins 15. bis 18. Jahrhundert, als noch die Männer mit ihren seidenbestrumpften Beinen das schöne Geschlecht waren. Wenn Mode damals die Stände trennte und eine Distinktion der Klassen war, so folgt mit der Französischen Revolution etwas strukturell Neues: Weiblichkeit und Mode werden zu Synonymen. Mode trennt nun die Geschlechter - ein Phänomen, das laut Vinken bis heute anhält. Der Anzug sei zur größten Ikone der Moderne geworden, er habe den männlichen Anzugträger in einen Amtsträger verwandelt - während Frauen sich durch Mode weitgehend individualisieren.

Komplex und geistreich führt Vinken in neun diskurshaften Themenblöcken
durch die Jahrhunderte - bis hin zu beredten Mode-Ikonen der Gegenwart wie etwa Michelle und Barack Obama oder zu den Sapeurs, den afrikanischen Dandys, deren unbedingter Stilwille selbst der Armut trotzt. Der kongolesische Schriftsteller Alain Mabanckou hat ihnen ein literarisches Denkmal gesetzt. Nicht zufällig interessieren die Romanistin viele französischsprachige Dichter und Denker - quer durch die Geistesgeschichte und interessant selbst für Modemuffel, wenn es zum Beispiel um Rousseaus calvinistische Skepsis gegen alles Schmückende geht versus Baudelaire, der wie kaum ein anderer die Mode als trickreiche Zauberei feierte.

Auch Vinken feiert – mit teilweise elitärem Blick auf Chanel & Co. ‒ die Sinnlichkeit und Ästhetik der Mode. Ihr Titel "Angezogen" ist ein einziges Understatement. Nur angezogen zu sein reicht hier nicht. Die Tendenz zum Unisex in der Kleidung verkennt laut der Autorin die Möglichkeiten und Reichtümer der Mode. Der öffentliche Raum der Mode sollte größer werden, so das Plädoyer. Frauen in Frankreich seien da weiter. Sie zeigten: Frau kann elegant sein und trotzdem Autorität haben.

Besprochen von Olga Hochweis

Barbara Vinken: Angezogen. Das Geheimnis der Mode
Klett Cotta, Stuttgart 2013
255 Seiten, 19,95 Euro