Sachbuch von H. Welzer und M. Friedman

Bildung sagt nichts über Humanität aus

23:05 Minuten
Nachtansicht der Synagoge Halle
Der antisemitische Hass sei offener geworden, sagt Michel Friedman. © Gettyimages / Jens Schlüter
Michel Friedman und Harald Welzer im Gespräch mit Christian Rabhansl |
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Michel Friedman und Harald Welzer diskutieren in ihrem Sachbuch "Zeitenwende" über die Angriffe auf Demokratie und Menschenrechte und was man ihnen entgegensetzen kann. Es fehle "emotionale Bildung", sagt Michel Friedman.
Christian Rabhansl: Ein Jahr nach dem antisemitischen Anschlag in Halle, wieder ein Angriff – diesmal vor der Synagoge in Hamburg. Diesmal hat ein Täter einen jüdischen Studenten attackiert und verletzt, mit einem Spaten. Versuchter Mord, sagen die Ermittler.

Solche Angriffe auf Demokratie und Menschenwürde sind nun Thema. Michel Friedman, Philosoph und Jurist und Harald Welzer, Sozialpsychologe, haben gemeinsam das Buch "Zeitenwende" veröffentlicht. Zum Augenblick unseres Gespräches wissen wir noch nicht genau, was in Hamburg alles passiert ist, aber ich glaube, Herr Friedman, genug für die Frage: Kann Sie so was noch überraschen?
Friedman: Wenn ich jetzt Nein antworten würde, dann würde ich einen Ausdruck von Routine in die Antwort stecken, deswegen ist meine Antwort dann doch Ja. Es überrascht mich immer wieder, und es überrascht mich, wie wenig Überraschung dann doch in so einem Vorfall steckt, weil wir in den letzten Jahrzehnten so unendliche viele Angriffe auf Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland erlebt haben und übrigens nicht nur die physischen, möchte ich dazuzählen, sondern die geistige Brandstiftung.
Judenhass, Menschenhass, Hass auf Menschen ist portionierter Mord. Hier haben wir in Hamburg gesehen, wie nahe wir einem Mord, der Tötung eines Menschen gekommen sind. Das ist in letzter Sekunde verhindert worden, aber die Ernsthaftigkeit und die Häufigkeit dieser, von der geistigen Brandstiftung bis zur tatsächlichen Ermordung stattfindenden Vorfälle, sind seit Jahrzehnten unter uns, und mittlerweile haben sie eine Dichte erhalten, die äußerst beunruhigend ist.
Rabhansl: Es wird dann häufig auf die Mitte, auf die Mehrheit der Gesellschaft verwiesen, die sehr zivilisiert sei. In Ihrem Buch fällt aber auch der Satz: Auf die Menschen ist kein Verlass. Herr Welzer, ist stattdessen auf Institutionen, auf Strukturen, auf was ist denn Verlass?
Welzer: In der Tat, das zeichnet einen Rechtsstaat aus, dass die Institutionen, wenn sie denn funktionieren, dafür sorgen, dass solche Gewalttaten, aber auch das zugehörige Klima nicht Raum greifen kann. Das ist der springende Punkt. Auf die Menschen ist kein Verlass, habe ich in diesem Buch gesagt, weil ich als Sozialpsychologe aus meiner eigenen Forschungsarbeit weiß, wie schnell sich sozusagen der Raum der Wahrnehmung, der Interpretation des Sagbaren verändert.
Wir haben natürlich in unserer Gesellschaft seit vielen Jahren etwas, was eine Konsensverschiebung bedeutet, nämlich, dass Einstellungen gegenüber Minderheiten aggressiver geworden sind, dass es Hetzkommunikation gibt, dass es öffentlich artikulierten Hass, eine andere politische Sprache gibt, und die macht dann für solche Täter einen Raum auf, den es vorher nicht gegeben hätte.

"Die Aggression war immer präsent"

Rabhansl: Wir haben immer den Eindruck, dass sich das so verschiebt und so verschärft, aber dieser Tage gab es auch noch mal einen Tweet, in dem die "Tagesschau von vor 20 Jahren" mit den Schlagzeilen verteilt wurde. Da war zum einen der Festakt zum Jubiläum der deutschen Einheit in Dresden am 03.10.2000, dann, Unbekannte werfen einen Brandsatz auf die Synagoge in Düsseldorf, Schändung der Gedenkstätte KZ Buchenwald, Präsident des Zentralrats der Juden wird mit Bombenattrappe bedroht, und Rechtsextreme verprügeln in Schwerin ein Ehepaar – alles an einem Tag vor 20 Jahren. Haben wir vielleicht doch keine Verschiebung, war es nie anders?
Friedman: Ich glaube, dass wir in dem Sinne keine Verschiebung haben. Die Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung hatte keinen Tag ohne Menschen- und Judenhass, und die körperliche wie auch die geistige Brandstiftung, die Aggression war immer präsent. Was sich verändert hat, ist die Unverschämtheit, eine Enthemmung, eine Schamlosigkeit, dass uns das alles noch mehr bewusster macht, und dass über den antisemitischen Hass mittlerweile auch der Hass auf Muslime, der Hass auch auf sexuelle Orientierungen deutlich aggressiver, weil offener geworden ist und dadurch ein Kreislauf stattfindet, der alle mitinfiziert, wenn wir uns nicht dagegen wehren.
Und nur eine kurze Bemerkung: Wir sehen ja auch, dass obwohl, wie Harald Welzer zu Recht sagt, wir uns in der Demokratie auf Institutionen verlassen können, auch in den Institutionen selbst diese Demokratiehasser am Werk sind.

Streit um Lernprozess hinsichtlich Demokratisierung

Rabhansl: Danach will ich gerade fragen, denn wenn Sie sagen, Herr Welzer, wir können uns auf die Institutionen verlassen, wenn jetzt in den letzten Wochen und Monaten immer und immer wieder rechtsextreme Beamte in Polizei, in Bundespolizei, im Verfassungsschutz auffliegen, ist das ein weiteres, Warnsignal oder könnte man sagen, eigentlich ist das ein gutes Zeichen, die sind ja nicht erst seit gestern da drin. Vielleicht werden gerade die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte aufgeräumt?
Welzer: Ja, natürlich sind beide Interpretationen zulässig, und wir können an dieser Stelle nicht sagen, welches die richtige ist, aber natürlich spielt diese Dimension eine Rolle. Da sieht man es ja: Wenn die Institutionen, wenn die Verantwortlichen genauer hingucken und eine Bereitschaft haben, solche Sachen auch aufzudecken und eben nicht zu decken, dann haben wir eine veränderte politische Situation.
Wir streiten uns in diesem Buch auch tatsächlich darüber, ob es insgesamt hinsichtlich Demokratisierung, Liberalisierung und rechtsstaatliche Orientierung der Bürgerinnen und Bürger in der Geschichte der Bundesrepublik eine positive Entwicklung gegeben hat.

Der Jurist Michel Friedman beim Gothaer Friedensgespräch 2016. Ein älterer Mann steht im Anzug auf einer Bühne. 
Michel Friedman: „Wenn es eine Zeit gab und gibt, wo man nun endgültig den Mund öffnen muss, das Gesicht zeigen muss im Alltag, (...) dann ist es jetzt.“ © imago images/VIADATA
Rabhansl: Gibt es überhaupt einen Lernprozess, die Frage taucht immer auf.
Welzer: Ich bin durchaus der Meinung, dass es einen Lernprozess gegeben hat, deshalb werden auch Ausdrücke, Verhaltensweisen, Auftreten von Leuten, die sich antisemitisch verhalten, mehr skandalisiert, als es früher der Fall gewesen ist.
Friedman: Ich bin anderer Meinung, ich glaube, dass es einerseits einen Lernprozess gibt, andererseits aber eine Renaissance, eine Reaktion dessen, was wir auch Menschen wie Harald Welzer für vorwiegend überwunden gedacht haben, weil wir auch dachten, mit der Generation, die in dem Nationalsozialismus gelebt hat, wenn die aussterben, würde die Bundesrepublik Deutschland ein ganz anderes Fundament, auch ein sicheres Fundament garantieren, dass diese Hoffnung nur zu Teilen erfüllt worden ist.
Wenn wir das Verhalten der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten, gerade was Judenhass, aber auch die andere Narrative des Hasses betrachten, so erleben wir, es gibt – Sie haben den Begriff verwendet, ich will ihn erweitern – eine, in Anführungsstrichen, "schweigende Mitte", von der wir immer hoffen, dass sie mit beiden Füßen auf den Boden der Demokratie und des Grundgesetzes stehen. Ich wäre heute schon froh, wenn ich sagen könnte, die stehen mit eineinhalb Füßen auf diesem Boden, weil ihre Sprachlosigkeit, ihr Nicht-Engagement, ihr Schweigen eine Fortsetzung des Schweigens der letzten Jahrzehnte ist.

Schweigende Mitte mitverantwortlich

Und wenn es eine Zeit gab und gibt, wo man nun endgültig den Mund öffnen muss, das Gesicht zeigen muss im Alltag – sei es in der Familie oder im Verein, aber auch im politischen Raum –, weil Diskriminierung alltäglich und laut geworden ist, dann ist es jetzt, diese schweigende Mitte ist äußerst leise und damit mitverantwortlich für die Verschiebung des Koordinatensystems.
Rabhansl: Ihr ganzes Buch ist manchmal fast ein Streitgespräch, auch wenn Sie sich im Grundsatz doch eher einig sind, hatte ich den Eindruck. Mir kamen Sie beide ehrlich gesagt im besten Sinne wie ein altes Ehepaar vor, das sich schon sehr, sehr lange kennt, gemeinsam schwingt, aber sich dann doch immer wieder beharkt. Ich hatte den Eindruck, Herr Welzer, Sie spielen die Rolle des Zweckoptimisten, und Herr Friedman, Sie sind der trotzige Realist. Ich will Sie jetzt gegenseitig fragen: Stimmt das, Herr Friedman, ist Herr Welzer ein Zweckoptimist?
Friedman: Das weiß ich nicht. Nur weil Sie das Bild des alten Ehepaars gewählt haben, ich glaube, wir sind ein altes Ehepaar geblieben, weil wir aufeinander neugierig sind, denn das ist der Schlüssel von Beziehungen: Neugierde und die Akzeptanz unterschiedlicher Perspektiven und die Hoffnung, dass diese gut begründet werden können, um in einem Streitgespräch konstruktiv einzusteigen.
Harald Welzer ist für mich eine der Persönlichkeiten in diesem Land, die es übrigens auch mir persönlich erlauben und ermöglichen, dass ich in Deutschland bleibe, weil solange es solche Menschen gibt, habe ich genug Vertrauen, dass es diese Menschen gibt, die nicht mir zuliebe sich für Demokratie oder gegen Diskriminierung engagieren, sondern ihrer selbst wegen. Diese Diskussion haben wir in dem ganzen Prozess sehr heftig und teilweise auch streitig geführt, aber wir haben auch versucht, mit diesem Buch zu zeigen, was bedeutet denn überhaupt Streiten.

Demokratischer Rechtsstaat ist verteidigungswert

Rabhansl: Herr Friedman hat sich jetzt ein bisschen um die Antwort herumgemogelt, er hat aber trotzdem eine sehr liebe Antwort Ihnen gegenüber gegeben, Herr Welzer. Wie sieht’s aus, wenn ich Sie jetzt frage, ist Herr Friedman der trotzige Realist, wie ich das empfunden habe?
Welzer: Ich finde die Bezeichnung trotziger Realist eigentlich gar nicht schlecht, ich weiß nicht, ob er sich das selber zuschreiben würde, aber…
Friedman: Ich bin nicht trotzig, ich bin aus der Pubertät herausgewachsen.
Welzer: Man weiß es manchmal nicht, aber im Trotz oder im Trotzigsein steckt ja ein Moment, dass man sich von negativen Entwicklungen nicht beirren lässt in dem Einstehen für das, was man für richtig und für gut hält. Ich glaube, dafür steht Michel Friedman sowieso. Was ich jetzt eigentlich in der Zusammenarbeit so interessant gefunden habe, ist tatsächlich:
Unser gemeinsamer realistischer Grund ist der, dass wir den Rechtsstaat, den demokratischen Rechtsstaat, die liberale, offene Gesellschaft für gut halten, für verteidigenswert halten, für modernisierungsfähig halten. Das Interessante ist jetzt, dass hier zwei Personen zusammengekommen sind, die ja eigentlich politisch aus unterschiedlichen Richtungen kommen, die eine sehr unterschiedliche Biografie jeweils haben.
Das glaube ich, hoffe ich zumindest, dass das in diesem Buch deutlich wird, dass genau das Demokratie ausmacht, dass man nicht in jedem Punkt konsensuell sein muss, dass man auch unterschiedliche politische Optionen an anderen Stellen haben kann, dass es aber, wenn es um die Bewahrung unserer Form von Gesellschaft geht, immer Möglichkeiten der Begegnung und der gemeinsamen Entwicklung neuer Gedanken im Gespräch gibt. Das finde ich so sehr interessant, und deshalb ist das ja nicht ausschließlich ein Streitgespräch, sondern es gibt auch viele Passagen, wo ich das Gefühl habe, da kommen wir selber im Gespräch auf Gedanken, die die Einzelnen vorher nicht gehabt haben.

Sündenfall Thilo Sarrazin

Rabhansl: Deshalb meinte ich auch, Sie schwingen da gut miteinander. Aber an ein paar Stellen, da streiten Sie sich dann eben doch, und ich hatte den Eindruck, ein Punkt, an dem Sie sich gar nicht einig werden können, ist die Frage, wie man denn eigentlich diskutiert mit rechtsextremen Positionen über rechtsextreme Positionen, und um es jetzt mal ganz auf den Punkt zu bringen: Ich hatte den Eindruck, Herr Welzer, wenn ich jetzt hier nicht nur Sie beide eingeladen hätte, sondern noch beispielsweise einen Vertreter der AfD und gesagt hätte, wir machen jetzt mal ein Streitgespräch, Sie wären nicht gekommen, oder?
Welzer: Nee, ich wäre nicht gekommen. Tatsächlich reden wir da ziemlich lange drüber und finden da auch keinen Konsens, aber für mich ist das Problem tatsächlich, dass durch Anerkennung, durch auch verbale – früher hätte man gesagt Satisfaktionsfähigkeit, also wenn man Leute in die Studios holt oder in die Talkshows oder ihnen Platz einräumt in den Feuilletonseiten, dass man der Gesellschaft damit keinen Gefallen tut, weil auch wenn das dann alles empört zurückgewiesen wird eine Stunde später und sich 2000 andere dazu äußern, dass das jetzt ganz schlimm war, was Herr Höcke gesagt hat, ist es desto mehr im gesellschaftlichen Resonanzraum angekommen.
Für mich war der absolute Sündenfall, auch der mediale Sündenfall der Umgang mit Thilo Sarrazin, dessen Buch so intensiv empört zurückgewiesen ist, dass es das meistverkaufte Sachbuch der Nachkriegsgeschichte geworden ist. Das ist wirklich etwas, wo man merkt, da verschiebt sich sozusagen der Maßstab dafür, was man ernsthaft diskutieren kann und was nicht, und insofern würde ich an so einer Diskussion nicht teilnehmen.

Ein Dialog erfordert Respekt

Rabhansl: Und das Argument, das mediale, wir müssen eben berichten, wir müssen darstellen, das bezeichnen Sie in dem Buch als Bullshit, Herr Welzer. Herr Friedman, warum sehen Sie das so dezidiert anders?
Friedman: Das Mediale ist die Grundaufklärung, die wir Journalisten und Journalistinnen zu leisten haben – wir nennen das Berichterstattung, es passiert was in unserem Land, also müssen wir darüber berichten.
Die Frage, ob ich im Journalistischen ein Interviewgespräch mit einem oder einer führenden Repräsentantin der AfD machen würde, würde ich grundsätzlich nicht mit Ja oder Nein beantworten, sondern es hängt von der Person ab, es hängt vom Anlass ab und es hängt auch vom konsensualen Umfeld ab, in dem so etwas stattzufinden hat. Ich persönlich würde aber, jetzt als Michel Friedman, mich mit Menschen, die mir mein Menschsein nicht anerkennen, natürlich nicht in einen Dialog bringen, weil der Dialog setzt per Definition voraus, dass zwei Menschen den Respekt voreinander, die Anerkennung, wie Harald Welzer das eben formuliert hat, auch aussprechen.
Aber die AfD erkennt mir ja mein Menschsein als Mensch wie andere Deutsche beispielsweise ab, das erkennt sie ja auch anderen Gruppierungen ab, und ich zitiere da sehr gerne George Tabori: Jeder ist jemand. Die Führung der AfD formuliert, einige sind niemand – dies ist keine Grundlage, um in einen Dialog zu treten. So gesehen verweigere ich mich nicht, sondern wenn man mir mein Menschsein auf Augenhöhe verweigert, dann war es a priori nie ein wirkliches Gespräch, was möglich gewesen wäre.

"Die Gegenpositionen müssen deutlich werden"

Rabhansl: Das ist die ganz extreme Variante, wenn es aber grundsätzlich um rechtsextreme Positionen geht, wo Herr Welzer glaube ich, wenn ich ihn richtig verstehe, eher vertreten würde, man muss die gar nicht alle thematisieren, weil man sie damit überhaupt nur in die Debatte bringt, da argumentieren Sie in dem Buch, Herr Friedman: Wenn Positionen sowieso schon im öffentlichen Raum sind, dann müssen auch die Gegenpositionen deutlich gemacht werden. Heißt das nicht, übers berühmte Stöckchen springen?
Friedman: Nein, ich glaube, wenn ich von "die Gegenpositionen müssen deutlich werden" spreche, dann heißt das nicht, dass ich mich mit den Herausgebern des Hasses an einen Tisch setzen muss, sondern ich nehme das, was im öffentlichen Raum formuliert wird, auch wenn es diese portionierten verbalen Mordanschläge sind, auf und versuche sie in einem Reflexionsraum, auch in einem publizistischen Reflexionsraum zu bedenken.
Ignorieren können wir das alles nicht mehr, weil selbst in Deutschland ist es mittlerweile die größte Oppositionspartei im Bundestag, das heißt, wir reden hier nicht von irgendwelchen nicht entdeckten rechtsextremistischen Gewalttätern oder auch Propagandisten, sondern wir reden von einer im Bundestag vertretenen Partei.
Ich gehe noch einen Schritt weiter: Alle, die diese Parteien wählen, machen sich mitverantwortlich und müssen sich auch verantwortlich machen lassen, dass sie eine Partei des Hasses wählen, denn wir sprechen vom mündigen Wähler. Das tun wir, wenn die Leute CDU wählen, SPD wählen, Grüne wählen, FDP wählen, nur bei der AfD entdecken wir plötzlich den Begriff des Protestwählers, der ist aber nicht exkulpierend.
So gesehen müssen wir miteinander diskutieren und streiten, und wie man das macht, empfehle ich uns allen, denn wir haben in der Tat gesehen, dass wir vor allen Dingen auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehbereich in den Jahren, wo die AfD noch nicht mal im Parlament gewählt wurde, ihnen, wie ich finde, einen entgegen ihren Legenden größeren Raum gegeben haben, als sie es verdient haben.

Inhumanes Verhalten von Professoren in der NS-Zeit

Rabhansl: Herr Welzer, Sie sagen in diesem Buch einen Satz, den finde ich bemerkenswert: Bildung schützt vor gar nichts. Das beziehen Sie auf Antisemitismus, auf Rassismus, auf Rechtsextremismus et cetera. Wie kommen Sie denn auf so einen furchtbaren Satz, den ich so gar nicht von einem Intellektuellen erwarten würde?
Welzer: Wir haben ja nun in der Geschichte, insbesondere der Geschichte des 20. Jahrhunderts, aber auch jetzt, eine Reihe von hoch gebildeten und intellektuellen Menschen, die für die Gegenmenschlichkeit votieren. Es ist ja ein Irrglaube, zu denken, dass führende Akteure im Nationalsozialismus bis hin zu den Leitern der Einsatzgruppen der Massenerschießungen ungebildete Menschen gewesen wären, ganz im Gegenteil: Mein Beispiel mit den Einsatzgruppenleitern ist tatsächlich so, die waren alle promoviert, zwei davon sogar doppelt promoviert, was man heute interdisziplinär nennen könnte, das hat die überhaupt nicht davon abgehalten, in einem unvorstellbaren Ausmaß Menschen zu töten.
Es gibt eine Verwechslung, dass so etwas wie das Besitzen eines formalen Bildungsabschlusses in irgendeiner Weise etwas damit zu tun hat, wie humanitär man orientiert, wie urteilsfähig man in Bezug auf die Kategorien wäre, die wir heute anlegen würden. Das ist ein großer Irrtum. Das heißt, man kann genauso ausgesprochen ungebildete Menschen finden, die unter Einsatz ihres Lebens auf spektakuläre Art und Weise Juden gerettet haben.
Und die Professorenschaft, die deutsche Professorenschaft im Dritten Reich hat sich wirklich nicht mit Ruhm bekleckert, insbesondere in der sehr frühzeitigen Ausschließung ihrer ganzen jüdischen Kollegen aus den Universitäten und so weiter. Das sieht man, Bildung hat da überhaupt nichts genützt. Mir geht es nur um diese Verwechslung, ich bin ein totaler Fan von Bildung, aber die nützt nichts sozusagen in Bezug auf die Urteilsfähigkeit, was gut und schlecht ist.

Der Soziologe Harald Welzer im Juni in der TV-Sendung "Markus Lanz". Ein älterer Mann sitzt in einem Studio in einer Talkrunde.
Harald Welzer: "Es ist ja ein Irrglaube, zu denken, dass führende Akteure im Nationalsozialismus (...) ungebildete Menschen gewesen wären."© imago images / teutopress
Rabhansl: Herr Friedman, bei Ihnen klingt das so, dass Sie in dem Buch sagen, kognitive Bildung ist wichtig, aber sie reicht nicht aus, es fehlt an emotionaler Bildung. Was heißt das?
Friedman: Um das noch mal auch für die Gegenwart zu verdeutlichen: Die Führung der AfD, das sind Oberstudienräte, die meisten sind in der Tat promovierte und studierte Leute, und deswegen unterstütze ich den Ansatz, den Harald Welzer eben formuliert hat, dass Bildung – übrigens damit beginnt das Buch –, dass Bildung eines der wichtigsten Elemente einer Zivilisation und übrigens auch der Übersetzung "Die Würde des Menschen ist unantastbar" bedeutet, nämlich Bildung ist eine Frage auch der Würde, die ein Staat in Respekt für Jugendliche und Kinder umzusetzen hat.
Die größte soziale Ungerechtigkeit auch heute noch ist die Bildungsungerechtigkeit in unserem Land, wo Herkunft dann tatsächlich immer noch eine Rolle für die Bildungs- und damit Lebensbiografie ist. Aber…

"In einer Demokratie kann man sich nicht passiv verhalten"

Rabhansl: Das ist gleich der thematische Einstieg Ihres Buches, aber was ist jetzt diese emotionale Bildung, die Sie vermissen?
Friedman: Die Fähigkeit, Empathie zu entwerfen. Soziale Kompetenz entsteht nicht nur aus Wissen im Sinne des Kognitiven, sondern auch der gelernten Erfahrungen, und unsere Aufgabe – und da will ich dann doch auf unser erstes Kapitel zurückkommen – bedeutet, dass wir auch in unseren Bildungsinstitutionen in der Lage sind, durch Reflexion, aber auch über emotionale Reflexion deutlich zu machen, wie entstehen überhaupt Vorurteile, woher kommen sie, und die Begründungen sind immer Pseudobegründungen.
Rabhansl: Jenseits dessen entwerfen Sie, Harald Welzer, oder Sie versuchen es am Ende, eine fast pragmatische Gebrauchsanweisung für die Demokratie zu entwerfen. Das ist ein kurzes Kapitel, da werfen Sie immer Vorschläge in den Raum wie zum Beispiel Kämpfe gegen Ungerechtigkeit, auch wenn sie dich scheinbar nicht selbst betrifft, oder stärke die Guten, da widerspricht dann auch Herr Friedman gleich, weil er sagt, na ja, schwieriger Begriff. Können Sie in zwei, drei Sätzen erklären, was macht diese pragmatische Gebrauchsanleitung für die Demokratie aus?
Welzer: Also ganz grundsätzlich, sie endet ja damit, dass wir über Verantwortlichkeit und Verantwortung diskutieren und zu dem Schluss kommen, dass man zum Beispiel in einer Demokratie sich nicht passiv verhalten kann, denn selbst wenn man passiv ist, stimmt man Entwicklungen zu. Unser ganzes Ringen in diesem Buch geht ja darum, wie kann man eigentlich sich selber und auch die anderen motivieren, aktiv sich als verantwortlich zu begreifen, das ist der springende Punkt.
Teilweise ist das sehr einfach, nämlich zum Beispiel zu widersprechen, wenn man gegenmenschliche Aussagen hört, teilweise ist es komplexer, wenn es darum geht, wie arbeite ich parteipolitisch. Aber wir wollten einfach auch einen emanzipativen Ausblick geben, einen, wo man, wenn man das Buch dann zuschlägt, denkt, ach Mensch, da mach ich jetzt auch mal ein bisschen mehr als vorher.

Michel Friedmann und Harald Welzer: "Zeitenwende. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde"
nheuer&Witsch, 2020
288 Seiten, 22,00 Euro

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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