Andrew Keen: Das digitale Debakel. Warum das Internet gescheitert ist – und wie wir es retten können
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015,
320 Seiten, 19,99 Euro
Wer von der Digitalisierung profitiert
Er entlarvt die Behauptung der Firmen des Silicon Valley als Lüge. Nein, die vernetzte Welt fördert nicht Transparenz, Wohlstand und Demokratie. In "Das digitale Debakel" zertrümmert der einstige IT-Start-up-Gründer Andrew Keen die Mythen der Digitalisierung. Die Profiteure seien einige wenige Player wie Google, Facebook oder Airbnb.
Andrew Keen ist der Antichrist des Internets. Die Schattenseiten der Digitalisierung wortstark zu bekämpfen, hat er sich zur Lebensaufgabe gemacht. Schon "Die Stunde der Stümper" – hierzulande 2008 erschienen – polarisierte wegen seiner Pauschalkritik. Die Kostenloskultur des Web 2.0 zerstöre die Kreativindustrie, weswegen nun Heerscharen von Amateuren unsere Kultur trivialisierten, polterte er damals. In seinem neuen Buch ist Keen nicht minder zimperlich. Inzwischen sieht der ehemalige IT-Pionier die gesamte Gesellschaft im Niedergang. Wer, wie etwa die Herren des Silicon Valley, behaupte, die vernetzte Welt fördere Transparenz, Wohlstand und Demokratie, sei schlicht ein Lügner.
Klingt nach einer plumpen Neuauflage seiner Polemik. Aber der Eindruck trügt. Denn inzwischen sind sechs Jahre vergangen. Zeit genug, um die von ihm verpönte digitale Euphorie mit neuen Fakten abzugleichen. Und die bestärken Keen in seiner Skepsis.
Digitale "Hypereffizienz" vernichtet Arbeitsplätze
Scharfzüngig, vorwurfsvoll und emotionsgeladen zertrümmert der Brite die wichtigsten Internet-Mythen mit aktuellen Zahlen. Beispiel: die Idee der Gleichheit. In Wahrheit sei die Internetwirtschaft eine hierarchische "Ein-Prozent-Ökonomie", die nur so wirke, als würden alle profitieren. Stattdessen konzentrierten nur wenige Player wie Google, Facebook oder Airbnb Macht und Reichtum auf sich.
Beispiel: Wohlstand für alle – auch das ein Mythos. Google etwa sei sieben Mal so wertvoll wie General Motors, biete aber nicht einmal ein Viertel der Arbeitsplätze. Fast die Hälfte aller Jobs in den USA würden wegen dieser digitalen "Hypereffizienz" bald ersatzlos verschwinden, zitiert Keen amerikanische Wirtschaftsforscher. Und mehr Demokratie? Die gebe es unter Amazons "brutalen Arbeitsbedingungen" ebenso wenig wie bei TaskRabbit, einem neuen Arbeitsvermittler, der häppchenweise "niedere Tätigkeiten an die Unterschicht" vermittelt.
Nur mutige Politiker können helfen
Andrew Keen belässt es aber nicht bei ernüchternder Statistik. Packend und schaurig zugleich wird sein Buch, wenn er von den Menschen hinter den Zahlen berichtet. Als Enfant terrible ist der einstige Start-up-Gründer immer noch gelegentlich gern gesehener Gast auf Technologieevents, wo sich die digitale Elite feiert. Wie er sie beschreibt, das ist Verachtung pur: "Alphastreber des Silicon Valley", "vulgär großkotzig" und "frei von jeglichem Realitätsbezug". Aber auch ins trostlose Rochester fährt er. Vom Foto-Marktführer Kodak gibt es dort nur noch ein Museum und 50.000 entlassene Arbeitnehmer, die ohne Rente dastehen – Opfer der Digitalisierung und für Keen Beweis dafür, dass der digitale Kapitalismus destruktiv ist. Weil er mehr gesellschaftliche Werte zerstört, als er neu schafft.
Helfen können nur mutige Politiker, so das Fazit des Internet-Kritikers. Und zwar mit Verordnungen und Gesetzen, wie schon früher in der Geschichte. Keen ist nicht der erste, der fordert. Einzigartig aber ist seine umbarmherzige und fundierte Analyse, der man sich – selbst wenn man wollte – nicht entziehen kann.