Sachbuch

Wie Deutschland den Pflegenotstand überwindet

Von Ariadne von Schirach |
Der Sozialexperte Thomas Klie zeigt in seinem neuen Buch Auswege aus der Pflegekatastrophe. Dabei geht er weiter als andere: Deutschland benötige nicht nur mehr Pflegekräfte, sondern auch eine neue Definition von Pflege.
Wer sorgt für mich, wenn ich alt bin? Angesichts von Fachkräftemangel und Berichten über skandalöse Lebensbedingungen in einigen Pflegeheimen stellt sich diese Frage mit Dringlichkeit. In seinem neuen Buch "Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft" beschäftigt sich der Sozialexperte Thomas Klie mit Auswegen aus der Pflegekatastrophe.
Von dem Leiter des "Zentrums für angewandte Sozialforschung" und Mitglied der 7. Altenberichtskommission der Bundesregierung erwartet man ein trockenes Sachbuch. Doch Klies fachkundiger und lebenskluger Beitrag entpuppt sich als überzeugende Vision einer "Gesellschaft des langen Lebens", die von gelingenden Fürsorgebeziehungen geprägt ist.
Dafür denkt er zunächst über ein neues Verständnis des Altersbegriffs nach und ergänzt Werte wie Mobilität, Erfolg und Aktivität durch das Recht auf "Weltferne und Eigensinn". Altersbedingte Leiden wie Gebrechlichkeit, Hilflosigkeit und Alzheimer werden von ihm dabei entpathologisiert. Nur in einer Leistungsgesellschaft scheinen sie wie Funktionsstörungen, aus einer anderen Perspektive betrachtet, können sie aber als neue Daseinserfahrungen fruchtbar gemacht werden.
Plädoyer für die "sorgende Gesellschaft"
Bestechend sind auch Klies Analysen der Auswirkungen der Ökonomisierung des Pflegesektors. Leidtragende sind nicht nur die alten Menschen, sondern auch die Pflegekräfte, die vielerorts schlecht bezahlt und behandelt werden. Dass diesen Missständen von staatlicher Seite mit immer umfangreicheren Qualitätskontrollen begegnet wird, sei zu eng gedacht. Nimmt die Teilnahme an solchen Kontrollen, doch Zeit in Anspruch, die eigentlich der Sorge um die Pflegenden gebührt. So vermischen sich die Ausgrenzung der gebrechlichen Alten und deren trotz Pflegeversicherung schlecht organisierte Betreuung zur "Pflegekatastrophe".
Was tun? Thomas Klie plädiert für die "sorgende Gesellschaft". Die Pflege alter Menschen kann nur gelingen, wenn Familien, Institutionen und der Staat auf eine neue Weise zusammenarbeiten. Das beginnt mit dem Recht des Einzelnen auf die "Teilhabe an dem, was für ihn persönlich bedeutsam ist". Das sind meistens auch soziale Beziehungen.
Für alte Menschen da zu sein und sie in ihrem So-Sein zu stützen, ist Aufgabe von Freunden und Familien, die wiederum für ihre Fürsorge Hilfe von kommunalen und staatlichen Stellen erhalten müssen. Es geht also darum, die Pflege der Alten - analog zur Kinderbetreuung - auf viele Schultern zu verteilen. Das macht Sinn.
"Wir brauchen andere Bilder von Pflege"
Klie präsentiert dafür sein Reformationskonzept von "Cure and Care". Die medizinische Betreuung, also "cure", sei Sache der Krankenkassen. "Care" hingegen erfordere den oben beschriebenen "Pflegemix" aus sozialer Einbindung, Betreuung von Ort und professioneller Hilfe. Deshalb seien besonders die Kommunen angesprochen, sich um "ihre" Alten zu bemühen. Mehrgenerationenhäuser, integrative Seniorenzentren, die Rekommunalisierung von Pflegeheimen sind Beispiele, die Hoffnung machen. Und zugleich in vielen Fällen, wie beispielsweise dem der Sozialholding Mönchengladbach, auch wirtschaftlich tragfähig sind.
Klies Anliegen ist es, alte Menschen wieder in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Und anders als viele Stimmen, die Symptombehebung durch mehr Heime oder mehr ausländische Pflegekräfte fordern, geht er tiefer: "Wir brauchen andere, differenziertere Bilder von Pflege und Pflegebedürftigkeit und eine andere Sprache."
Sein beeindruckendes Buch zeigt überzeugende Alternativen auf und ist mit seinem Begriff der "sorgenden Gesellschaft" zugleich ein nachhaltiger Appel an unsere Solidarität wie an den gesunden Menschenverstand. Denn das Thema "Alter" geht früher oder später wirklich jeden etwas an.

Klie, Thomas: Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft,
Pattloch Verlag, Broschiert, Januar 2014,
256 Seiten, 18 Euro