Sachbuch

Wie Russlands Adel im Klassenkampf unterging

Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg (Petrograd) am 7. November 1917.
Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg im November 1917 © picture-alliance / dpa / UPI
Von Wolfgang Schneider |
Erniedrigt, beleidigt, gemordet. Mit voller Wucht traf die Revolution die russische Aristokratie. Ihren Untergang nach 1917 beschreibt der Historiker Douglas Smith in "Der letzte Tanz" - spannend und fast romanhaft zu lesen.
Lenin und seine Mitstreiter wollten die Fehler der Französischen Revolution nicht wiederholen: Trotz "Terreur" und Guillotine sei man damals mit den Gegnern des Fortschritts nicht entschlossen genug verfahren, so Lenin. Als er im Jahr 1917 daranging, den Weltkrieg der Nationen in den Bürgerkrieg der Klassen umzuformen, lautete das erste Gebot für gute Revolutionäre: Du sollst töten!
Da es eine bürgerlich-bourgeoise Schicht im vorrevolutionären Russland kaum gab, traf der Klassenkrieg mit voller Wucht die Aristokratie, die über Jahrhunderte die politischen Geschicke Russlands bestimmt, die höhere Kultur dominiert und die Dienste der meist bitterarmen Massen in Anspruch genommen hatte. Dabei hatte der Adel mit der Leibeigenschaft ein Äquivalent zur amerikanischen Sklaverei bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Grundlage seines komfortablen Lebensstils gemacht.
Deshalb war das Mitleid mit den enteigneten, verfolgten, vertriebenen, vielfach gefolterten und ermordeten Adligen meist begrenzt: Hatten die es sich nicht selbst zuzuschreiben? Millionenfach starben auch einfache russische Soldaten und Bauern im Bürgerkrieg und während der Hungerjahre um 1920. Waren da die adligen Exilanten, die zwar ihre Güter verloren hatten, ihre Existenz im Ausland aber bisweilen allein von dem Schmuck bestreiten konnten, den sie über die Grenze geschmuggelt hatten, nicht noch vergleichsweise gut dran?
Zwei Adelsfamilien als Beispiel
So blieb die Leidensgeschichte der russischen Aristokratie größtenteils ungeschrieben. Douglas Smiths Darstellung mit dem allzu belletristischen Titel "Der letzte Tanz" füllt jetzt diese Lücke. Im Original heißt das Buch "Former People" – "ehemalige Leute", ein Begriff der Revolutionsjahre, der die Überlebtheit dieser Gesellschaftsklasse bezeichnen sollte.
Am Beispiel zweier weitverzweigter adliger Großfamilien, der Scheremetjews und der Golyzins, erzählt Smith ein halbes Jahrhundert russischer Geschichte, zunächst die Jahre vor der Revolution, in denen es dem inkompetenten Zar Nikolaus II. nicht gelang, die brodelnde Gesellschaft politisch zu beruhigen. Seit dem späten 19. Jahrhundert wurde Russland von einer Welle der politischen Gewalt heimgesucht. Attentate gehörten fast schon zum Alltag, vielfach wurden von aufgebrachten Bauern die Gutshöfe geplündert und in Brand gesteckt. Smith widerlegt den Mythos von der angeblich noch zivilen "bürgerlichen" Revolution des Jahres 1917.
Spannende historische Darstellungen widmen sich außerdem den Verfolgungen, den oft erfolglosen Versuchen zu entkommen oder sich mit der "Diktatur des Proletariats" zu arrangieren. Auch auf die "Säuberungen" und Massenmorde während der 30er- und 40er-Jahre geht Douglas umfassend ein. Es ist ein großer, einfühlsam geschriebener Bilderbogen des Schreckens, ein fast romanhaft zu lesendes Buch, das von vielen Verzweiflungen, Familienkatastrophen, zerstörten Existenzen und gewaltsamen Toden berichtet. Erniedrigte, Beleidigte, Gemordete – ganz im Stil des 20. Jahrhunderts.

Douglas Smith: Der letzte Tanz - Der Untergang der russischen Aristokratie
Aus dem Amerikanischen von Bernd Rullkötter
S. Fischer, Frankfurt/Main 2014
512 Seiten, 24,99 Euro

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