Gerhard Staguhn: "Und ewig lockt das Haar. Was es bedeutet, wie es wächst und warum es uns so anzieht"
Klampen Verlag 2019, 184 Seiten, 18 Euro
"Bei manchen Menschen sieht man das Fell noch"
10:38 Minuten
Schamhaare und Engelslocken – ein Sachbuch nimmt sich der Kulturgeschichte des Haars an. Haare seien schon immer ambivalent gewesen, sagt sein Autor Gerhard Staguhn. Das Haar unserer Freundin lieben wir, vor fremdem Haar in der Dusche ekeln wir uns.
Frank Meyer: Haare sind heute ein großes Thema: Die Hipster pflegen hingebungsvoll ihre Vollbärte, Männer rasieren ihren ganzen Körper, viele Frauen rasieren sich gerade nicht mehr. Manche Frauen tragen Glatze, junge Männer tragen Dutt. Glänzende Zeiten also für ein Buch über Haare, und so ein Buch hat Gerhard Staguhn geschrieben: "Und ewig lockt das Haar". Haare können sehr erotisch sein und überraschenderweise schreiben Sie auch über die Haare als Sinnesorgan. Inwiefern sind denn Haare Sinnesorgane?
Staguhn: Das ist eine persönliche Erfahrung, die jeder hat. Man muss nur über sein eigenes Haar fahren und spürt, wie das Haar auf die Berührung antwortet. Oder wenn man fremdes Haar berührt – oder man wird berührt –, merkt man, dass sofort eine intensive, sinnliche Wahrnehmung da ist. Das Haar ist tatsächlich ein Sinnesorgan.
"Mich hat die sinnliche Seite des Haars fasziniert"
Meyer: Das ist die sinnenhafte Seite der Haare. Wenn man andererseits im Hotel in eine Dusche steigen will und es liegt noch ein fremdes Haar herum, sind Haare alles andere als erotisierend und ganz im Gegenteil abstoßend. Wie kommt dieser Gegensatz zustande?
Staguhn: Hier sieht man die ganze Ambivalenz des Haars. Da ist das Positive, der positive Aspekt, das Reizende, Sinnliche. Und es hat den negativen Aspekt, den haben Sie schon genannt, mit Haaren, die man gerne weghaben möchte. Besonders negativ ist das einzelne Haar besetzt. Ich habe die These aufgestellt, dass uns dieses einzelne Haar an den Tod gemahnt. Auch wenn man weiß, dass Haare den Tod überdauern und eine lange Zeit weiter existieren, hat das einzelne Haar etwas von einem Lebensfaden, der vor uns liegt. Das ist unbewusst, aber ich glaube das wirkt.
Meyer: Das einzelne abgetrennte Haar als Memento Mori. Sie haben vor diesem Buch ein anderes geschrieben mit dem Titel "Der Penis-Komplex". Man könnte den Verdacht haben, dass Sie vor allem die erotische Seite der Haargeschichte interessiert hat?
Staguhn: Das Thema geht natürlich fließend aus dem anderen hervor, weil der Penis auch mit Haaren zu tun hat. Die sinnliche Seite des Haars hat mich fasziniert, und dann ist klar, dass die Sinnlichkeit des Haars eigentlich die weibliche Sinnlichkeit ist. Die Männer mit ihren Haaren haben eher ein Problem. Schönes Männerhaar gibt es auch, aber es ist selten. Die Männer haben meistens eher weniger auf dem Kopf.
Der Vollbart als Antwort auf die weibliche Emanzipation?
Meyer: Die Hipster mit ihrer Vollbartkultur würden Ihnen widersprechen.
Staguhn: Genau. Das ist eine neue Tendenz, die jetzt auch schon einige Jahre währt. Vor allem legen die jungen Leute den Schwerpunkt auf den Bart. Ich habe den Verdacht, dass die jungen Männer durch die Irritation der jungen Frauen, die sehr mutig auftreten, sich unbewusst auf ihren Bart besinnen.
Meyer: Ein Rückzug auf männliches Territorium.
Staguhn: Ja, sie haben da noch das letzte, was die Frauen ihnen nicht streitig machen können.
Meyer: Das erste Kapitel trägt die Überschrift "Der Mensch und sein Restfell". Wir haben kein Fell mehr, das unterscheidet uns von unseren nächsten Verwandten, den Primaten. Ist wegen dieser Differenz unser Verhältnis zu unserer Körperbehaarung so schwierig, so ambivalent?
Staguhn: Wir wollen eigentlich nicht daran gemahnt werden, dass wir vom Tier abstammen. Bei manchen Individuen ist es tatsächlich so - an Badestränden kann man das beobachten - dass Männer noch sehr viel Haar am Körper haben.
Meyer: Da sieht man das Fell noch.
Staguhn: Genau. Da ist Darwins Theorie eigentlich tatsächlich bestätigt. Wobei: Wir stammen nicht vom Affen ab, sondern Affe und Mensch haben einen gemeinsamen Vorfahren.
Zu viele Haare störten in der Savanne nur
Meyer: Wieso haben wir im Laufe der Evolution unsere Haare verloren? Sie haben sich auch mit den biologischen Fragen beschäftigt: Wieso verlieren drei Viertel aller Männer im Laufe ihres Lebens mehr Haare als sie wollen?
Staguhn: Das ist eine rein hormonelle Angelegenheit. Wie Sie bei mir sehen, habe ich mit meinem hohen Alter noch immer volles Haar. Das ist aber kein persönliches Verdienst. Es ist einfach eine hormonelle Angelegenheit. Das Testosteron, das bei Männern vorherrschend ist, mildert oder mindert den Haarwuchs auf dem Kopf, verstärkt aber den Bartwuchs. Diese Divergenz ist noch nicht wissenschaftlich geklärt.
Meyer: Und warum haben wir überhaupt unsere Haare verloren?
Staguhn: Weil wir sie nicht mehr brauchen. Die Evolution macht das so, dass sie das ausscheidet, was nicht mehr gebraucht wird. Die Intelligenz des Menschen hat das Haar überflüssig gemacht. In dem Moment, wo er von den Bäumen runtersteigt, braucht er es nicht mehr. Es stört sogar, um sich in der Savanne fortzubewegen.
Meyer: Sie wandern mit Ihrem Buch durch viele Bedeutungsschichten der Haare: Biologie des Haares, das Haar in mythologischen Erzählungen. Sie haben ein langes Kapitel über die Religion und das Haar. Wieso sind viele Religionen so obsessiv mit Haaren beschäftigt?
Verteufelung des Frauenhaars
Staguhn: Sie sind eigentlich nicht obsessiv mit Haaren beschäftigt, sondern nur mit dem Haar der Frau. Das Männerhaar spielt in der Religion keine Rolle. Das Frauenhaar ist verteufelt, und das geht Jahrtausende zurück. Man kann das schon in der Bibel spüren. Im Judentum ist es extrem, da heißt es, dass alles Haar der Frau Schamhaar sei. Das ist eine rabbinische Weisheit, die dann von den anderen Religionen übernommen wurde, vom Christentum und vom Islam. Im Islam ist diese Verteufelung bis heute wirksam, während es in den anderen beiden Religionen in die orthodoxe Ecke abgedrängt wurde.
Meyer: Hat dies etwas zu tun mit der Sinnlichkeit, die man Frauen zuschreibt und der Gefährlichkeit dieser Sinnlichkeit?
Staguhn: Vor Mohammed sind die Frauen in der vorislamischen Zeit sehr selbstbewusst aufgetreten. Sie brachten ihr Haar ins Spiel, es wurde auch in der Lyrik gefeiert. Und dann kommt der Gegenschlag mit der Islamisierung. Die Sinnlichkeit der Frau muss eingeschränkt werden und es kommt das Schleiergebot. Es ist in sich logisch, so schlimm das ist.
Blondes Haar als Fetisch vieler Kulturen
Meyer: Sie schreiben in Ihrem Buch über die Farben von Haaren, über die klassischen Zuschreibungen, dass blonde Haare historisch gesehen mit dem Wahren, Guten, Schönen assoziiert werden. Wie ist es dazu gekommen?
Staguhn: Wir haben es mit einem Klischee zu tun, das 2000 Jahre alt ist. Man muss diesem Klischee einen gewissen Respekt zollen. Schon in der Antike sieht man, dass das blonde Haar eine herausragende Rolle spielt, vielleicht weil es auch so selten war. Man hat sich die Göttinnen und Götter mit blondem Haar vorgestellt. Auch der Bezug zum Gold, zur Leuchtkraft, zum Lichten ist da zum Wirken gekommen.
Meyer: Man muss sich vor Augen halten, dass in den antiken Kulturen blondes Haar extrem selten war, oder?
Staguhn: Ja. Natürlich gab es in Griechenland auch blonde Frauen. Wenn Sie heute in Griechenland sind, werden Sie das auch bemerken. Aber es ist extrem selten, noch seltener als bei uns. Und dadurch bekommt es eine unglaubliche Wirksamkeit. Das war auch im Islam so, in der Hochkultur des Islam waren blonde Frauen ungemein gefragt. Es war das Höchste, wenn ein Adeliger in seinem Harem eine blonde Frau hatte.
Meyer: Und wieso hat sich auf der anderen Seite dieses sehr alte Klischee bis in unsere Gegenwart gehalten?
Staguhn: Sie meinen das Blondinenklischee? Also diese Blondinenwitze, die jetzt, glaube ich, inzwischen ausgestorben sind.
Meyer: Nein, ich meine den Blick auf blondes Haar als irgendwie wertvolleres.
Staguhn: Das ist in psychologischen Studien nachgewiesen. Die Männer starren auf schönes Frauenhaar, aber am längsten starren sie auf blondes Haar. Ich kann es nicht nachvollziehen, weil ich diese Präferenz nicht habe. Aber es ist wahrscheinlich so: Der Mann meint unbewusst, einen Engel vor sich zu haben. Also eine Frau, die es gut mit ihm meint, die weich ist, anschmiegsam. Das ist natürlich eine Täuschung und ein Klischee, aber das wirkt trotzdem.
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