Deutschlandfunk Kultur, ZDF und "Die Zeit" präsentieren gemeinsam die stärksten Sachbücher des Monats. Gekürt werden die Titel von einer Jury aus 30 Kritikerinnen und Kritikern.
Götz Aly: "Das Prachtboot"© Deutschlandradio / S. Fischer
Das Entree des Berliner Humboldt Forums soll das sogenannte Luf-Boot schmücken: ein 16 Meter langes Holzboot, das die Bewohner der Südseeinsel Luf vor 150 Jahren bauten. Doch wie kam das Boot nach Berlin? Der Historiker Götz Aly erzählt eine Geschichte über Diebstahl und Völkermord durch deutsche Kolonialisten. Das nächste Kapitel in der Kunstraub-Debatte. 66 Punkte
Horst Bredekamp: "Michelangelo" © Deutschlandradio / Wagenbach
Überwältigend ist das Werk des Renaissance-Meisters Michelangelo. Nicht nur in seiner Bedeutung, auch im Umfang: Es erstreckt sich von der Malerei über die Bildhauerei bis in die Architektur. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp schafft es dennoch, das gesamte Œuvre "des Göttlichen" zu bündeln - auch wenn er dafür mehr als 800 Seiten braucht. Ein eindrucksvolles Zeitpanorama. 61 Punkte
3. (-) Olga Shparaga: "Die Revolution hat ein weibliches Gesicht: Der Fall Belarus"
Aus dem Russischen von Volker Weichsel
edition Suhrkamp, Berlin 2021
234 Seiten, 13 Euro
Olga Shparaga: "Die Revolution hat ein weibliches Gesicht: Der Fall Belarus"© Deutschlandradio / Suhrkamp
Am Anfang der Revolution steht "Eva": ein Frauengemälde von 1928, das die Demonstrierenden in Belarus im letzten Sommer tausendfach auf ihren T-Shirts trugen. "Eva" lautet auch der Titel des ersten Kapitels in Olga Shparagas Buch. Die weißrussische Philosophin erzählt die Chronologie eines von Frauen angeführten Proteststurms. Sie zeigt: Ihr Kampf steht für den Kampf aller Frauen weltweit. 59 Punkte
Mark Gevisser: "Die pinke Linie" © Deutschlandradio / Suhrkamp
So verschieden sind die Folgen einer Ehe: 2009 heiratete Mark Gevisser seinen Partner in Südafrika – von nun an genoss er steuerliche Privilegien. Ein Jahr später kam es in Malawi zur ersten "Schwulenehe", und die Vermählten wurden zu 14 Jahren Haft verurteilt. Die Kluft zwischen diesen Schicksalen nennt Gevisser "pinke Linie". Einfühlsam berichtet der Journalist von queerer Liebe. 56 Punkte
Bénédicte Savoy/Merten Lagatz/Philippa Sissis (Hrsg.): "Beute: Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe"© Deutschlandradio / Matthes & Seitz
"Die Autorität der Museen bröckelt, und viele wollen wissen: Woher kommen die dort ausgestellten Objekte?", sagt Bénédicte Savoy. Nach ihrem Buch über "Afrikas Kampf um seine Kunst" erscheint nun ein mit anderen Berliner Kunsthistorikern recherchierter Bildband über Raubkunst. Das Protokoll einer Unrechtsgeschichte, die bis in die Antike zurückreicht. 53 Punkte
Lothar Müller: "Adrien Proust und sein Sohn Marcel"© Deutschlandradio / Wagenbach
Seerosen gleichen Neurasthenikern, Liebeskranke hoffen auf Impfungen: In Marcel Prousts Meisterwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" sind medizinische Referenzen keine Seltenheit. Das liegt wohl auch daran, dass Marcels Vater Adrien Arzt war. Der Journalist Lothar Müller bringt die beiden zusammen – und erzählt von den überraschenden Wechselwirkungen aus Literatur und Medizin. 43 Punkte
Dan Diner: "Ein anderer Krieg"© Deutschlandradio / DVA / Random House
Hitlers Überfall auf Polen, der Russland-Feldzug, die Schlacht um Berlin: Die Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs entwickelt sich meist entlang dieser Wendepunkte. Der Historiker Dan Diner macht es anders: Er lenkt den Blick auf den Nahen Osten. Denn das Schicksal Palästinas blieb mit dem der Kriegsparteien eng verwoben – vor allem wegen des Öls. 28 Punkte
Per Leo: "Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur"© Deutschlandradio / Klett-Cotta
Wir Deutschen sind stolz auf unsere Erinnerungskultur. Doch kann es sein, dass wir uns nur selbst entlasten wollen? Per Leo, Mitautor des vieldiskutierten Bestsellers "Mit Rechten reden", schlägt vor, den Blick zu weiten: Wie stehen die USA, Israel oder Polen zu ihrer eigenen, unaufgeräumten Geschichte? Ein Plädoyer für mehr Offenheit und Neugier – und gegen das Klischee. 24 Punkte
Annette Kehnel: "Wir konnten auch anders: Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit"© Deutschlandradio / Blessing
Nachhaltigkeit, ein Modephänomen? Ganz im Gegenteil! Anhand anschaulicher Beispiele zeigt die Historikerin Annette Kehnel, dass Recycling oder Second Hand schon in vormodernen Zeiten beliebte Konzepte waren. Erst im 19. Jahrhundert begann das Zeitalter von Profitstreben und hemmungslosem Ressourcenverschleiß. Eine Reise in die Vergangenheit, die Lust auf Veränderung macht. 21 Punkte
9. (-) Anne Boyer: "Die Unsterblichen: Krankheit, Körper, Kapitalismus"
Aus dem Englischen von Daniela Seel
Matthes & Seitz, Berlin 2021
280 Seiten, 25 Euro
Anne Boyer: Die Unsterblichen: Krankheit, Körper, Kapitalismus"© Deutschlandradio / Matthes & Seitz
Eine Woche vor ihrem 41. Geburtstag erfährt die Dichterin Anne Boyer, dass sie an Brustkrebs erkrankt ist. Sie beginnt, sich mit dem Verhältnis von Krankheit und Gesellschaft zu beschäftigen. Boyer stößt auf antike Traumtagebücher, Verschwörungstheorien und untersucht die Mechanismen der Gesundheitsindustrie. Die Originalfassung wurde 2020 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet – Boyer hat überlebt. 21 Punkte
So funktioniert die Abstimmung:
Jedes Jurymitglied vergibt an vier Sachbücher je einmal 15, 10, 6 und 3 Punkte.
Die Jury der Sachbuch-Bestenliste:
René Aguigah (Deutschlandfunk Kultur)
Peter Arens (ZDF)
Susanne Billig (Deutschlandfunk Kultur)
Ralph Bollmann (FAS)
Stefan Brauburger (ZDF)
Alexander Cammann (DIE ZEIT)
Gregor Dotzauer (Der Tagesspiegel)
Heike Faller (DIE ZEIT)
Daniel Fiedler (ZDF)
Jenny Friedrich-Freksa (Kulturaustausch)
Manuel J. Hartung (DIE ZEIT)
Thorsten Jantschek (Deutschlandfunk Kultur)
Kim Kindermann (Deutschlandfunk Kultur)
Inge Kutter (DIE ZEIT)
Hannah Lühmann (DIE WELT)
Ijoma Mangold (DIE ZEIT)
Susanne Mayer (DIE ZEIT)
Tania Martini (taz)
Catherine Newmark (Deutschlandfunk Kultur)
Jutta Person (freie Literaturkritikerin)
Bettina von Pfeil (ZDF)
Jens-Christian Rabe (Süddeutsche Zeitung)
Christian Rabhansl (Deutschlandfunk Kultur)
Anne Reidt (ZDF)
Anna Riek (ZDF)
Stephan Schlak (Zeitschrift für Ideengeschichte)
Hilal Sezgin (freie Autorin)
Catrin Stövesand (Deutschlandfunk)
Elisabeth von Thadden (DIE ZEIT)
Julia Voss (Leuphana-Uni Lüneburg)