Deutschlandfunk Kultur, ZDF und „Die Zeit“ präsentieren gemeinsam die stärksten Sachbücher des Monats. Gekürt werden die Titel von einer Jury aus 30 Kritikerinnen und Kritikern.
1 (-) Michael Wildt: "Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 bis 1945"
C. H. Beck, München 2022
638 Seiten, 32 Euro
Michael Wildt: "Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 bis 1945"© Deutschlandradio / C. H. Beck
Wie konnte es zur Katastrophe gekommen? Die meisten Historiker suchen Kontinuitäten der deutschen Geschichte in der großen Politik. Michael Wildt wählt einen anderen Weg: Er begibt sich in dunkle Hinterhöfe und besucht migrantische Communities oder Varieté-Shows. Über das Wechselspiel von Oben und Unten im „Zeitalter der Extreme“. 90 Punkte
John McWhorter: "Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet"© Deutschlandradio / Hoffmann und Campe
Der Antirassismus der Woken nehme religiöse Züge an, schreibt John McWhorter, Linguistik-Professor und Kolumnist der "New York Times". Dabei sei er gerade eines nicht: antirassistisch. Weiße bewiesen ihre Tugendhaftigkeit, statt sich mit den wirklichen Problemen der schwarzen Bevölkerung auseinanderzusetzen. Das nächste Kapitel der Debatte um die Identitätspolitik, bissig und pointiert. 55 Punkte
Thomas von Steinaecker: "Ende offen. Das Buch der gescheiterten Kunstwerke"© Deutschlandradio / S . Fischer
Ob Michelangelo, Schubert, Stanley Kubrick, die Beach Boys oder Ludwig II.: Selbst die Allergrößten sind irgendwann einmal gescheitert. Der Schriftsteller Thomas von Steinaecker hat die Geschichten jener Werke gesammelt, die nie fertiggestellt wurden. Ein Kuriositätenkabinett des Größenwahns, zugleich: eine Huldigung an die menschliche Fantasie. 35 Punkte
Nora Bossong: "Die Geschmeidigen. Meine Generation und der neue Ernst des Lebens"© Deutschlandradio / Ullstein
Keine Boomer mehr, aber noch keine Millenials: Die Schriftstellerin Nora Bossong beschreibt den Seelenzustand ihrer Generation, der heute 40-Jährigen. Aufgewachsen mit der Gewissheit, dass alles gut wird, sehen sie sich nun mit einer Kaskade an Krisen konfrontiert. Die „Geschmeidigen“ sind leise und konsensorientiert – aber vielleicht gerade deshalb die besseren Krisenmanager? 30 Punkte
4 (-) Carl Safina: "Die Kultur der wilden Tiere"
Aus dem Amerikanischen von Sigrid Schmid und Gabriele Würdinger
C. H. Beck, München 2022
428 Seiten, 28 Euro
Carl Safina: "Die Kultur der wilden Tiere"© Deutschlandradio / C. H. Beck
„Die Intelligenz der Tiere“ war ein internationaler Bestseller. In seinem neuen Buch geht der Meeresbiologe Carl Safina einen Schritt weiter und zeigt: Tiere sind nicht nur klug, sondern auch kultiviert. Wale gründen Familien, Papageien haben Sinn für Schönheit und Schimpansen schließen Frieden. Eine eindrückliche Absage an die Idee, nur der Mensch sei Kulturwesen. 30 Punkte
6 (-) Philipp Felsch: "Wie Nietzsche aus der Kälte kam: Geschichte einer Rettung"
C. H. Beck, München 2022
288 Seiten, 26 Euro
Philipp Felsch: "Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung"© Deutschlandradio / C. H. Beck
Nach 1945 war Friedrich Nietzsches Ruf ruiniert: Die Nazis hatten seinen „Übermenschen“ für ihre Eugenik missbraucht. Ausgerechnet zwei italienische Antifaschisten befreiten das Werk des Philosophen von Verfälschungen – und stießen damit ungewollt eine philosophische Bewegung an, die die Wahrheit selbst infrage stellte. Der Beginn der Postmoderne. 28 Punkte
6 (-) Michael Kempe: "Die beste aller möglichen Welten: Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Zeit"
S. Fischer, Frankfurt am Main 2022
352 Seiten, 24 Euro
Michael Kempe: "Die beste aller möglichen Welten. Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Zeit"© Deutschlandradio / S. Fischer
Sieben Tage, die für ein ganzes Leben stehen: Michael Kempe lässt den Leser an den Schlüsselmomenten des Gottfried Wilhelm Leibniz teilhaben. Man sieht ihn beim Tratsch mit Kurfürstin Sophie in Hannover. Oder im Bett seiner Pariser Wohnung, wo er Berge von Notizzetteln vollschreibt, um schließlich das Integralzeichen zu erfinden. Eine vergnügliche Reise in den Kopf des großen Universalgelehrten. 28 Punkte
8 (-) Amia Srinivasan: "Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert"
Aus dem Englischen von Anne Emmert und Claudia Arlinghaus
Klett-Cotta, Stuttgart 2022
320 Seiten, 24 Euro
Amia Srinivasan: "Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert"© Deutschlandradio / Klett-Cotta
Sex gilt als Privatsache und soll Spaß machen. Dennoch ist er aufgeladen von gesellschaftlichen Erwartungen, manifestiert Ungleichheit und geht häufig mit Gewalt einher. Differenziert und unaufgeregt diskutiert die Oxford-Philosophin Amia Srinivasan die Ambivalenzen der Sexualität. In Großbritannien ist das Buch ein Bestseller – nun erscheint es auf Deutsch. 26 Punkte
9 (-) Karl-Heinz Ott: "Verfluchte Neuzeit. Eine Geschichte des reaktionären Denkens"
Hanser, München 2022
432 Seiten, 26 Euro
Karl-Heinz Ott: "Verfluchte Neuzeit. Eine Geschichte des reaktionären Denkens"© Deutschlandradio / Hanser
Ein Schamane, der im Herzen der Demokratie wütet – Bilder wie nach dem Sturm auf das Kapitol galten lange als undenkbar. Dabei gibt es Feinde der Vernunft, seitdem es die Aufklärung gibt. In seinem Essay erkundet der Schriftsteller Karl-Heinz Ott die Geschichte der Antimoderne. Denn er weiß: Die Vernunft kann nur dann siegen, wenn sie ihre Gegner kennt. 25 Punkte
10 (-) Aaron Sahr: "Die monetäre Maschine. Eine Kritik der finanziellen Vernunft"
C. H. Beck, München 2022
447 Seiten, 28 Euro
Aaron Sahr: "Die monetäre Maschine. Eine Kritik der finanziellen Vernunft" © Deutschlandradio / C. H. Beck
Die Geldmenge wächst kontinuierlich, investiert wird trotzdem nicht. Woran liegt das? Vor allem an einem falschen Verständnis vom Wesen des Geldes, schreibt der Wirtschaftssoziologe Aaron Sahr. Es sei kein unschuldiges Werkzeug – sondern politische Institution. Der einzige Ausweg aus den Krisen der Gegenwart: die Vergesellschaftung der Geldmaschine. 24 Punkte
So funktioniert die Abstimmung:
Jedes Jurymitglied vergibt an vier Sachbücher je einmal 15, 10, 6 und 3 Punkte.
Die Jury der Sachbuch-Bestenliste:
René Aguigah (Deutschlandfunk Kultur)
Peter Arens (ZDF)
Susanne Billig (Deutschlandfunk Kultur)
Ralph Bollmann (FAS)
Stefan Brauburger (ZDF)
Alexander Cammann (DIE ZEIT)
Gregor Dotzauer (Der Tagesspiegel)
Heike Faller (DIE ZEIT)
Daniel Fiedler (ZDF)
Jenny Friedrich-Freksa (Kulturaustausch)
Manuel J. Hartung (ZEIT-Stiftung)
Thorsten Jantschek (Deutschlandfunk Kultur)
Kim Kindermann (Deutschlandfunk Kultur)
Inge Kutter (DIE ZEIT)
Hannah Lühmann (DIE WELT)
Ijoma Mangold (DIE ZEIT)
Susanne Mayer (DIE ZEIT)
Tania Martini (taz)
Catherine Newmark (Deutschlandfunk Kultur)
Jutta Person (freie Literaturkritikerin)
Bettina von Pfeil (ZDF)
Jens-Christian Rabe (Süddeutsche Zeitung)
Christian Rabhansl (Deutschlandfunk Kultur)
Anne Reidt (ZDF)
Anna Riek (ZDF)
Stephan Schlak (Zeitschrift für Ideengeschichte)
Hilal Sezgin (freie Autorin)
Catrin Stövesand (Deutschlandfunk)
Elisabeth von Thadden (DIE ZEIT)
Julia Voss (Leuphana Uni Lüneburg)