Deutschlandfunk Kultur, ZDF und "Die Zeit" präsentieren gemeinsam die stärksten Sachbücher des Monats. Gekürt werden die Titel von einer Jury aus 30 Kritikerinnen und Kritikern.
1 (-) Delphine Horvilleur: "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus"
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Hanser Berlin, 141 Seiten, 18 Euro
Wo liegt der Ursprung des Antisemitismus? Delphine Horvilleur legt seine Wurzeln in philosophischen und religiösen Schriften frei.© Coverabbildung: Hanser-Verlag
Was heißt es, jüdisch zu sein? Und wer bestimmt darüber? Die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur ist eine prominente Stimme des liberalen Judentums. In ihrem Essay diskutiert sie moderne jüdische Identitätspolitik, beleuchtet die Verquickungen zwischen Judenhass und Frauenfeindlichkeit und spannt dabei den Bogen vom Talmud bis zur politischen Gegenwart. Ein weitsichtiges Buch.
2 (-) Wednesday Martin: "Untrue"
Aus dem Englischen von Nina Frey
Berlin Verlag, 432 Seiten, 22 Euro
Weshalb wird Untreue bei Männern und Frauen oft völlig unterschiedlich bewertet? Die Anthropologin Wednesday Martin räumt mit hartnäckigen Klischees auf.© Berlin Verlag
Es ist die intime Fantasie vieler Frauen, den Partner zu betrügen. Doch der Wunsch ist schambeladen. Ob antike Tragödien, moderne Dramen oder Netflix-Serien – untreue Frauen gelten als krank oder gefährlich. Warum ist das so? Die Anthropologin Wednesday Martin erzählt die Geschichte der Untreue und räumt mit allen Klischees auf. Das Buch ist frech, aufregend und klug.
3 (5) Kübra Gümüşay: "Sprache und Sein"
Hanser Berlin, 208 Seiten, 18 Euro
In jeder Gesellschaft gibt es "Benannte" und "Unbenannte": Kübra Gümüşay macht bewusst, was unsere Sprache als selbstverständlich voraussetzt und wie wir übereinander reden.© Hanser Berlin
Wie kann man sprechen, ohne in Klischees zu verfallen? Welche Kategorien gibt es, die Menschen nicht in Schubladen steckt? Darüber schreibt die Journalistin Kübra Gümüşay. Sie sucht eine Sprache, die gemeinschaftliches Denken zulässt, ohne Differenzen zu kaschieren. Ein Pamphlet für eine Gesellschaft, deren Mitglieder trotz wachsender Unterschiede miteinander reden können.
4 (-) Robert E. Lerner: "Ernst Kantorowicz. Eine Biographie"
Aus dem Amerikanischen von Thomas Gruber
Klett-Cotta, 554 Seiten, 48 Euro
Ein Gelehrtenleben im Strudel der Geschichte: Robert E. Lerner schildert den widerspruchsvollen Weg des deutsch-amerikanischen Mittelalter-Forschers Ernst Kantorowicz von Posen nach Princeton.© Deutschlandradio/Klett-Cotta
Ernst Kantorowicz war als Historiker eine originelle Figur. In der Weimarer Republik positionierte er sich als junger Konservativer und Jünger Stefan Georges. Nach der Machtergreifung Hitlers musste er als Jude in die USA fliehen. Weshalb stand Kantorowicz erst rechts von Hindenburg, um schließlich Kennedy links zu überholen? Robert E. Lerner zeigt die Widersprüche eines einzigartigen Geistes.
5 (-) Roman Deininger: "Die CSU. Bildnis einer speziellen Partei"
C. H. Beck, 352 Seiten, 24 Euro
Platzhirsch in Bedrängnis: Roman Deiningers Porträt der CSU wirft ein eigenes Licht auf die Krise der Volksparteien. © C. H. Beck / Deutschlandradio
Die CSU sah sich in Bayern jahrzehntelang als konkurrenzlose Staatspartei. Doch diese Zeiten sind vorbei. Die CSU-Herrlichkeit wankt, und es ist ungewiss, ob sie ihre Machtposition im Freistaat behaupten kann. Roman Deininger beobachtet die CSU seit vielen Jahren für die "Süddeutsche Zeitung". Sein Parteienporträt ist kritisch, fair und nicht zuletzt ungemein unterhaltsam.
6 (2) Abhijit V. Banerjee und Esther Duflo: "Gute Ökonomie für harte Zeiten"
Penguin-Verlag, 560 Seiten, 26 Euro
Wie können wir Armut effektiver bekämpfen? Die Nobelpreisjury haben Abhijit V. Banerjee und Esther Duflo mit ihren neuen Ansätzen schon mal überzeugt.© Penguin
Die Ökonomen Esther Duflo und Abhijit Banerjee haben 2019 für ihre Studien zur Linderung der Armut den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. Nun erscheint ihr neues Buch, das die größten Herausforderungen der Weltwirtschaft thematisiert: wachsende Ungleichheit, Globalisierung, Umweltkatastrophen, Populismus. Die beiden plädieren für eine Politik, die Reiche besteuert und Armen eine Stimme verleiht.
6 (1) Eva Weissweiler: "Das Echo deiner Frage. Dora und Walter Benjamin"
Hoffmann und Campe, 370 Seiten, 24 Euro
Als Autorin stand Dora Benjamin lange im Schatten ihres berühmten Ehemanns, des Philosophen Walter Benjamin. Eva Weissweiler widmet ihnen eine Doppelbiographie.© Hoffmann und Campe
Dora Benjamin war die Frau von Walter Benjamin, aber vor allem eine Intellektuelle: Sie schrieb über Musik und Philosophie und verfasste Romane. Eva Weissweiler hat die Beziehungsgeschichte zwischen Dora und Walter Benjamin untersucht. Ihre Biografie wirkt wie Serienstoff: Zuneigung, Affären, das erste Kind, schließlich die Scheidung – und überall stets der rigorose Eigenbrötler Walter Benjamin.
8 (-) Aladin El-Mafaalani: "Mythos Bildung"
Kiepenheuer & Witsch, 320 Seiten, 20 Euro
Bildung ist kein Allheilmittel, warnt der Soziologe Aladin El-Mafaalani, sie braucht ein solides gesellschaftliches Fundament.© Kiepenheuer & Witsch / Deutschlandradio
Der Soziologe Aladin El-Mafaalani analysiert die Probleme des deutschen Bildungssystems. Dabei geht es ihm nicht um eine Revolution. Stattdessen zeigt er, dass der Ruf nach Bildung nur dann fruchtet, wenn die Gesellschaft ihre zentralen Probleme löst: soziale Ungleichheit, Populismus und fehlende Digitalisierung. Seine Grundthese: Bildungspolitik ist nur so gut wie das System, in dem sie stattfindet.
8 (-) Josef Haslinger: "Mein Fall"
S. Fischer, 144 Seiten, 20 Euro
Die Zeit war reif: Erst nach dem Tod des Täters konnte Josef Haslinger über den Missbrauch schreiben, der ihm als Kind widerfuhr.© S. Fischer / Deutschlandradio
Als Zehnjähriger wurde Josef Haslinger Schüler des Sängerknaben-Konvikts Stift Zwettl in Österreich. Er war religiös, wollte Priester werden, er liebte die Kirche. Doch diese Liebe endete fatal. In seinem neuen Buch "Mein Fall" erzählt der österreichische Schriftsteller die verstörende Geschichte seines Missbrauchs im katholischen Internat.
8 (-) Parag Khanna: "Unsere asiatische Zukunft"
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz
Rowohlt, 496 Seiten, 24 Euro
Von Asien kann der Westen eine Menge lernen, davon ist Parag Khanna überzeugt.© Rowohlt Verlag
Asien funktioniert anders als der alte Westen, schreibt Parag Khanna: flexibler, pragmatischer, besser. Dass Asien das Modell von morgen sei, steht für den Politikwissenschaftler außer Frage. Sogar das Kino und die Mode seien besser. Grund zur Sorge gebe es trotzdem nicht, lautet Khannas Botschaft an unsere westliche Welt. Denn am Ende profitierten alle von den Entwicklungen auf dem Kontinent.
8 (-) Mitchell Zuckoff: "9/11 Der Tag, an dem die Welt stehen blieb"
Aus dem Englischen von Tobias Schnettler
S. Fischer, 704 Seiten, 28 Euro
Er gibt den Opfern eine Stimme: Mitchell Zuckoff rekonstruiert die Terroranschläge auf New York und weitere Ziele in den USA am 11. September 2001.© S. Fischer / Deutschlandradio
Das Attentat auf das World Trade Center in New York war das entscheidende Ereignis unseres Jahrhunderts. Erst jetzt kann man angemessen davon erzählen. Mitchell Zuckoff tut dies, indem er jede Minute aus der Perspektive der Opfer rekonstruiert. Er folgt den Passagieren in den Flugzeugen, den Menschen in den Türmen und den Passanten auf der Straße. Eine Chronik voller Mut, Verlust und Selbstlosigkeit.
So funktioniert die Abstimmung:
Jedes Jury-Mitglied vergibt an vier Sachbücher je einmal 15, 10, 6 und 3 Punkte.
Die Jury der Sachbuch-Bestenliste:
René Aguigah (Deutschlandfunk Kultur)
Peter Arens (ZDF)
Susanne Billig (Deutschlandfunk Kultur)
Ralph Bollmann ("F.A.S.")
Stefan Brauburger (ZDF)
Alexander Cammann ("DIE ZEIT")
Gregor Dotzauer ("Der Tagesspiegel")
Heike Faller ("DIE ZEIT")
Daniel Fiedler (ZDF)
Svenja Flaßpöhler ("Philosophie Magazin")
Jenny Friedrich-Freksa ("Kulturaustausch")
Manuel J. Hartung ("DIE ZEIT")
Thorsten Jantschek (Deutschlandfunk Kultur)
Ekkehard Knörer ("Merkur")
Inge Kutter ("DIE ZEIT")
Hannah Lühmann ("DIE WELT")
Ijoma Mangold ("DIE ZEIT")
Tania Martini ("taz")
Christoph Möllers (HU Berlin)
Jutta Person (freie Literaturkritikerin)
Bettina von Pfeil (ZDF)
Jens-Christian Rabe ("Süddeutsche Zeitung")
Christian Rabhansl (Deutschlandfunk Kultur)
Anne Reidt (ZDF)
Anna Riek (ZDF)
Stephan Schlak ("Zeitschrift für Ideengeschichte")
Hilal Sezgin (freie Autorin)
Catrin Stövesand (Deutschlandfunk)
Elisabeth von Thadden ("DIE ZEIT")
Julia Voss (Leuphana-Uni Lüneburg)