Sachbücher zum Wirecard-Skandal

Der Milliardenbetrug

11:17 Minuten
Gesucht: Jan Marsalek ist noch immer untergetaucht, der Abgeordnete Fabio de Masi hat das Fahndungsfoto zum Untersuchungsausschuss mitgebracht.
Jan Marsalek ist noch immer untergetaucht, der Abgeordnete Fabio de Masi hat das Fahndungsfoto zum Untersuchungsausschuss mitgebracht. © picture alliance/dpa | Kay Nietfeld
Von Ursula Weidenfeld |
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Wirecard entpuppte sich als Kartenhaus aus Größenwahn und Irrsinn. Pünktlich zum Untersuchungsausschuss durchleuchten vier sehr unterschiedliche Bücher das Geflecht des Betrugs und zeigen: Warnungen gab es genug, es wollte sie nur niemand hören.
Es sind gleich vier Bücher zum selben Thema erschienen, und das Erstaunliche ist: Sie sind alle gut, auf unterschiedliche Art. Der sensationelle Aufstieg und mindestens ebenso spektakuläre Fall des Bezahldienstleisters Wirecard aus Aschheim bei München fasziniert die Autoren und das Publikum. Noch nicht ein Jahr ist der Insolvenzantrag alt, und schon wollen viele ziemlich genau wissen, wie alles passiert ist.
Die genaueste Analyse dazu wird allerdings erst in den nächsten Monaten erscheinen, wenn der Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag seinen Abschlussbericht veröffentlicht. Nur, dass der sicher nicht annähernd so unterhaltsam sein wird wie die vier Bücher, die wir jetzt schon lesen können.

Eine einfache und visionäre Geschäftsidee

Wirecard: Das ist ein Finanzdienstleister, der in den ersten Jahren dieses Jahrtausends gegründet wird und rasant bis in den DAX der 30 größten Aktiengesellschaften Deutschlands aufsteigt. Die Firmengründer erkennen, dass mit dem gerade durchstartenden Zeitalter des Internets auch die unkomplizierte Bezahlung im Netz möglich werden muss. Paypal hat auch gerade erst angefangen, Apple Pay gibt es noch gar nicht. In einer Zeit, in der die meisten Leute noch mit Bargeld bezahlen und in Deutschland nicht einmal alle Bürger eine Kreditkarte haben, ist das visionär.
Die Idee klingt einfach: Ein Verkäufer und ein Kunde, die sich nicht kennen, werden sich nicht vertrauen: Der Käufer zahlt erst, wenn die Ware da ist. Der Verkäufer liefert erst, wenn bezahlt ist.
Für normale Waren gibt es damals eine einfache und gebräuchliche Lösung: Man liefert per Nachnahme. Für die neuen digitalen Produkte aber geht das nicht. Hier liefert man per Wirecard oder einem Wettbewerber der jungen Firma. Das ist ganz ähnlich wie eine Kreditkarte, nur eben digital. Das Risiko ist hoch. Denn die am häufigsten nachgefragten digitalen Produkte sind, jedenfalls anfangs, keine Büro-Software oder gestreamte Familienfilme. Es sind Pornos, Gewinne und Verluste aus Online-Pokerrunden oder Glücksspieleinsätze, mit denen Wirecard sein Geld verdient.
Der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Wirecard, Markus Braun, schaut in die Runde vor seiner Aussage vor dem Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestages.
Nachdenklich: Der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Wirecard, Markus Braun, vor seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuss.© picture alliance/dpa/Reuters Images Europe/Pool | Fabrizio Bensch
"Erwachsenenunterhaltung" nennt Wirecard-Chef Markus Braun das gerne. Anfangs kassiert man auch über die anrüchigen 0190er-Nummern ab. Als die verboten werden, verlagert sich das Geschäft, und als in den USA Online-Glücksspiele untersagt werden, bricht es fast zusammen.

Dubiose Deals verstecken

Spätestens jetzt, so schildern es Melanie Bergermann und Volker ter Haseborg in ihrem Buch "Die Wirecard Story", beginnt der große Betrug: Wirecard kauft überall in der Welt kleine Firmen zu völlig überhöhten Preisen, um die halblegalen oder verbotenen Geschäfte nicht in den eigenen Büchern zu haben und sich unangreifbar zu machen. Die Firmenchefs tun sich mit einer illustren Gesellschaft aus Geschäftemachern, Halbweltgrößen, Angebern und Abzockern zusammen.
Dieses Milieu schildern wiederum Bettina Weiguny und Georg Meck in ihrem Buch zum Film "Wirecard – Das Psychogramm eines Jahrhundertskandals" atemberaubend plastisch. Es wird von Leuten erzählt, die heute Hotels bauen wollen, morgen einen Boxstall finanzieren, die mal mit Immobilien handeln und dann wieder mit Zahlungsdienstleistungen hantieren. Leute, die sich gegenseitig übers Ohr hauen und trotzdem morgen den nächsten Deal zusammen machen. Hauptsache reich, Hauptsache Champagner, Hauptsache eigener Business-Jet oder mindestens First Class.
Melanie Bergermann und Volker ter Haseborg arbeiten beide als Reporter bei der Wirtschaftswoche. "Die Wirecard Story – Die Geschichte einer Milliardenlüge" ist gleichzeitig die Recherche für eine Dokumentation in der ARD und auf Sky, die im Mai gezeigt wird. Auch das Wirecard-Buch von Bettina Weiguny und Georg Meck ist der Plot für eine Filmdokumentation, die gerade auf RTL ausgestrahlt wurde.
Diese Doppelrolle hat für beide Bücher einerseits viel Charme. Bergermann und ter Haseborg inszenieren die Wirecard-Geschichte wie ein Roadmovie, eine verrückte Geschichte reiht sich an die andere – bis die Firma untergeht. Weiguny und Meck holen die Interviewpartner der Dokumentation in ihr Buch.
Da werden lustige, teilweise auch berührende Antworten gefunden. Etwa, wenn ein Boxer und Geschäftspartner der Wirecard-Manager über die "Ohrlaschen" schwadroniert, die er gelegentlich kritischen Begleitern der Unternehmensgeschichte verpasst haben soll. Oder wenn die Mutter des zweiten Manns bei Wirecard, des Hauptverdächtigen Jan Marsalek, überlegt, wann ihr Sohn womöglich auf die schiefe Bahn geraten ist. Zu ihr habe er nach einem Streit über das ständig brennende Licht in seinem Kinderzimmer den Kontakt komplett abgebrochen. Da war er gerade einmal 19 Jahre alt und im letzten Schuljahr. Dennoch zahlt sie jahrelang seine offenen Rechnungen.
Für beide Bücher ist die Nähe zur Filmdoku allerdings nicht nur gut – in der aufgeschriebenen Version verlieren sich die Autoren dann doch zu oft im unüberschaubaren Geflecht der Tochtergesellschaften, Freunde und Gegner der Firma. Weiguny und Meck erliegen darüber hinaus leider der Versuchung, sich auch noch über Fragen wie "Wie wird man kriminell?" zu beugen. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.

Irrsinn und Größenwahn im Führungszirkel

Denn schon die Hauptpersonen im Wirecard-Krimi taugen eher für einen Roman als für ein Sachbuch. Eine lebendige Vorstellung davon bekommt man, wenn man Jörn Leograndes Schilderung "Bad Company" liest. Der Mann war 15 Jahre lang Führungskraft bei Wirecard. Er schildert die Faszination, die von den Verrückten in der Führungsetage ausgeht.
Da ist Markus Braun, ein verschlossener Einzelgänger aus Wien, der Klimaanlagen hasst, sich äußerlich immer mehr seinem großen Vorbild, dem Apple-Gründer Steve Jobs anverwandelt und mindestens genauso groß denkt wie die verstorbene Unternehmerlegende selbst. Da ist Jan Marsalek, der hochbegabte Schulabbrecher aus Wien mit Kontakten zu Geheimdiensten, ständig neuen Ideen und einer Kreditkarte aus echtem Gold. Er gilt als der Erbauer des Kartenhauses. Jetzt ist er abgetaucht, es läuft eine weltweite Fahndung nach ihm.
Und da ist Oliver B., der Call-of-Duty-Zocker. Er steuert die unübersichtliche Zahl der Wirecard-Tochtergesellschaften von Dubai aus und wird später Kronzeuge der Münchner Staatsanwaltschaft. Der Mann hat einen Hygienefimmel, schreibt Leogrande. Angeblich isst er überhaupt nur fünf Gerichte, ernährt sich in unbekannten Hotels lieber aus einem Ein-Kilo-Glas Nutella als unbekannte Speisen anzurühren, nach jedem Flug verbrennt er seine Klamotten, weil die mit fremden Keimen verunreinigt sein könnten. Aus diesem Personal strickt Leogrande eine Geschichte des Größenwahns und der unausweichlichen Katastrophe. Vorher verdient allerdings auch Leogrande viel Geld bei Wirecard.
Nach außen wird dieser Irrsinn kaum sichtbar. Sich von dem halbseidenen Milieu emanzipiert zu haben, die Zahlungsmodalitäten großer seriöser Einzelhändler, Finanzinstitute und Versandhändler abzuwickeln, darauf ist man bei Wirecard in den vergangenen Jahren stolz gewesen.
Und darauf ist auch Deutschland stolz. Endlich, mehr als 30 Jahre nach der letzten großen deutschen Firmengründung, der SAP, gibt es wieder eine Firma, die Weltliga spielen kann. Eine, die mit ihren innovativen Ideen den Finanzplatz Deutschland aufwertet. Eine, mit der man sich schmücken kann. Wirecard steigt sogar in den Dax, den Index der größten deutschen Aktiengesellschaften auf.

Warnungen gab es genug

Alle wollen den Erfolg dieser Firma. Nur das erklärt, schreibt Felix Holtermann, der für das Handelsblatt über Wirecard berichtet, warum so viele Warnzeichen übersehen werden. Holtermann hat das klügste der vier Bücher geschrieben: "Geniale Betrüger – Wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt". Er weigert sich, die Sache als bedauerlichen Einzelfall hinzunehmen und analysiert die Schwächen eines Systems, das den Betrug möglich gemacht hat.
Denn nicht nur die Manager selbst machen einen Fehler nach dem anderen und betrügen ihre Anleger und Kunden. Auch die Wirtschaftsprüfer winken einen Jahresabschluss nach dem anderen durch, obwohl die Zahlen nicht stimmen können. Und die Finanzaufsicht? Nun, die prüft nach den ersten unliebsamen Presseberichten lieber, ob die Journalisten der Financial Times womöglich Insidergeschäfte machen – und nicht, ob die Manager von Wirecard gerade ein paar Milliarden aus der Firma schleusen. Dabei gibt es Warnungen genug. Es will sie halt nur niemand hören.
Frankfurter Sitz der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht.
Im Zusammenhang mit Bilanzskandal und Insolvenzantrag von Wirecard wurde die BaFin massiv kritisiert.© picture alliance / Daniel Kubirski | Daniel Kubirski
Nur die wichtigste Frage bleibt auch nach Lektüre aller vier Bücher offen: Wo ist das Geld? Das ist die Frage, die nicht nur die vielen Anleger, die Wirecard-Aktien gekauft und ihr Geld verloren haben, brennend interessiert. Sie treibt die Banken um, die Kredite gegeben haben, die Wirecard-Beschäftigten, die ihre Arbeit verlieren, die ehrlichen Lieferanten, die auf ihren Rechnungen sitzen bleiben. Bisher ist nicht einmal klar, wie viel echtes Geld tatsächlich geflossen ist. Luftbuchungen in Milliardenhöhe sind auf jeden Fall im Spiel. Aber die neuen Firmentöchter in Asien wurden mit echtem Geld zu teuer gekauft. Wer davon profitiert hat, wird gerade erst herausgearbeitet.
Für die Geschädigten ist es kein Trost zu erfahren: Ihr Geld ist nicht weg, es ist jetzt nur bei anderen. Denn die anderen, das sind die Betrüger, die die Firma ausgehöhlt haben. Und es sind die Shortseller, die früh ahnten, dass die schöne Geschichte von Wirecard nicht stimmte – und ihre Wetten dagegen machten.

Felix Holtermann: "Geniale Betrüger – Wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt"
Westend, Frankfurt/M. 2021
272 Seiten, 22 Euro

Jörn Leogrande: "Bad Company – Meine denkwürdige Karriere bei der Wirecard AG"
Penguin, München 2021
285 Seiten, 22 Euro

Bettina Weiguny, Georg Meck: "Wirecard – Das Psychogramm eines Jahrhundertskandals"
Goldmann, München 2021
396 Seiten, 20 Euro

Melanie Bergermann, Volker ter Haseborg: "Die Wirecard Story – Die Geschichte einer Milliardenlüge"
FinanzBuch Verlag, München 2020
272 Seiten, 19,99 Euro

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