Häuserkampf in der Altmark
Gardelegen ist die drittgrößte Stadt in Deutschland - mit nur 24.000 Einwohnern. Jetzt aber wächst Gardelegen: durch eine Retortenstadt der Bundeswehr. Doch mehr Einwohner gibt es dadurch nicht, denn: hier soll nur gekämpft werden.
"Die Wege bei uns im Rathaus sind zumindest überschaubar."
Überschaubar ist es tatsächlich im Rathaus der Hansestadt Gardelegen. Montagnachmittag, kurz vor zwei. Draußen kriecht Nieselregen durch alle Ritzen, drinnen verschafft sich Bürgermeisterin Mandy Zepig bei ihrer Sekretärin einen Überblick darüber, was heute noch ansteht: ein, zwei Telefonate, Papierkram. Keine besonderen Vorkommnisse. In Deutschlands drittgrößter Stadt.
"Drittgrößte Stadt?! Na, das is' gar nich' so klein. Ich mein', wir kommen nach Berlin und Hamburg. Und - find' ich: Wir reihen uns da ganz gut ein."
620 Quadratkilometer groß ist Gardelegen seit der Sachsen-Anhalter Gebietsreform 2011. Knapp 24.000 Einwohner verteilen sich auf 49 Ortschaften. Macht pro Quadratkilometer 38 Einwohner. Die SPD-Frau mit den roten Locken rattert die Eckdaten ihrer Mega-Gemeinde nur so runter. Zahlen, Fakten, Statistiken: Damit kennt sich die Juristin aus. Mit der Genese der Gebietsreform auch. Es war keine leichte Geburt.
"Also: Freiwillig. Mittelmäßig freiwillig. Und total unfreiwillig."
Ging die Gebietsreform in Gardelegen über die Bühne. So richtig wollte sie eigentlich keiner – die Zwangsehe. Schon gar nicht die Ortsbürgermeister. Einige zogen bis nach Magdeburg, vors Landesgericht: Vergeblich. Ergo wächst jetzt zusammen, was zwar nicht unbedingt zusammengehört, aber wegen der Magdeburger Vorgaben zusammenwachsen muss.
"Einen Effizienzzuwachs?! Gibt es bestimmt in einigen Bereichen. Gibt es aber auch bestimmt in einigen Bereichen nicht. Weil – gerade bei uns kann man das gut sehen – die Wege so lang sind, dass man in bestimmten Sachen nicht gerade von Effizienzsteigerung sprechen kann."
Einen Autobahnanschluss wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Industrie hat sich seit der Wende auch so angesiedelt. Ein Kunststoffhersteller mit rund tausend Mitarbeitern, diverse Autozulieferer, die VW in Wolfsburg beliefern. Ikea war auch mal da, bis sich der schwedische Möbelhersteller 2009 entschloss, seine Bücherregale aus Kostengründen lieber in der Slowakei produzieren zu lassen. Mit einem Schlag fielen 178 Arbeitsplätze weg. Haben sie auch noch weggesteckt. Die Altmärker sind hart im Nehmen. Und bodenständig.
"So ein richtiger Altmärker ist dem Boden im wahrsten Sinne des Wortes wirklich sehr verbunden. Und bei mir war es tatsächlich so gewesen: Ich bin zum Studium weggegangen, das ging nicht anders, aber dann wollte ich auch nirgendswo anders wohnen als hier, das mein ich eigentlich."
Vor acht Jahren hat Zepig geheiratet, unten im historischen Standesamt. Richtig romantisch, auch wenn die Ehe – unromantischerweise – nach drei Jahre in die Brüche ging. Hat sie halt mehr Zeit für ihre Tochter. Und ihren Job als Bürgermeisterin. Schließlich gilt es, eine Familientradition hoch zu halten.
"Mein Großvater war schon Bürgermeister – allerdings in einem kleinen Ortsteil, der jetzt zu Gardelegen gehört. Das war zu DDR-Zeiten. Da war das Ganze noch 'n bisschen anders: die Bürgermeisterei. Und auch mein Großvater als Bürgermeister wäre 'ne Persönlichkeit, die heute wahrscheinlich so nicht mehr bestehen könnte. Wie soll ich sagen: Die Art der Zusammenarbeit unter den Bürgermeistern und auch den damaligen sowjetischen Freunden wäre heute vielleicht nicht mehr so ganz zeitgemäß."
Die sowjetischen Freunde – das waren die 15.000 Soldaten, die bis zur Wende auf dem größten DDR-Truppenübungsplatz stationiert waren. Zepig schließt für ein paar Sekunden die Augen. Laut war es damals, sehr laut. Besonders, wenn Manöver war. Dann musste immer die große Scheibe des Konsums in Hottendorf, ihrer Heimatgemeinde, mit Spanplatten verbarrikadiert werden. Wegen der Detonations-Wucht. Den Großvater störte so etwas nicht.
"Ich weiß nur: Es war irgendwann mal was glatt zu biegen und da hat er die sowjetischen Freunde gefragt, ob se mit nem Panzer drüber fahren könnten und das haben se auch gemacht. Das hat auch funktioniert."
Junge Soldaten mit dem Tod konfrontieren
Ein neuer Tag, eine andere Ecke von Gardelegen, einmal quer durch die Heide – und auch hier ein Hundeliebhaber und Fusions-Skeptiker. Gert Hinke ist Pfarrer von Letzlingen und Solpke, zwei Ortsteilen von Gardelegen. Als solcher wohnt er im Pfarrhaus am Waldrand. Idyllisch ist es hier. Ziemlich sogar. Ab und zu fährt ein Auto über das krumme Kopfsteinpflaster: Ansonsten: Rauschen nur die Bäume leise vor sich hin. Hinke genießt das. Die Ruhe. Den Riesen-Garten. Eigentlich eine Bilderbuch-Idylle, doch auch den Gottesmann plagen Sorgen; Identitäts-Sorgen.
"Das halt ich für schwierig. In diesem Riesengebiet 'ne gemeinsame Identität zu schaffen, sozusagen: Wir sind Gardelegen. Ich würde mal so sagen: Lokal leben, aber global denken."
Hinke versteht nicht nur etwas von Dialektik, sondern auch von Fusionen. Ähnlich wie die öffentliche Hand hat die Evangelische Kirche im Stammland der Reformation den Rotstift angesetzt – angesichts des demografischen Wandels und leerer Kassen. Stellenstreichungen, auslaufende Verträge, Fusionen: Hinke kennt das nur zu gut. Seit Kurzem gehören auch die fünf Dörfer rund um Solpke zu seinem Pfarrbereich.
"Ich betreue ich jetzt zehn Dörfer in der Fläche – mit ganz unterschiedlichem Gepräge. Man möchte eigentlich 'n bisschen schmunzeln und gleichzeitig auch 'n bisschen weinen. Denn Fusionen sind ja nicht gerade Liebesehen. Sondern sie haben mit Vernunft zu tun. Mit Notwendigkeiten. Das hat in meinem Fall damit zu tun, dass der Vorgänger in Ruhestand gegangen ist. Und es naheliegend war, den Nachbarn zu fragen, ob ich denn auch die Gemeinde übernehme."
Hinke versucht das Beste aus der Situation zu machen, kurvt von einem Ort zum anderen - der manchmal mehr Probleme hat als Bewohner. Sich anpassen, das konnte er schon immer. Der Geistliche war früher Seelsorger im Gardelegener Krankenhaus – und davor zwölf Jahre lang Soldaten-Seelsorger im nahegelegenen Gefechtsübungszentrum. Auch nicht immer einfach. Junge Soldaten in Zeiten von Auslandseinsätzen damit zu konfrontieren, dass es bei ihren Einsätzen um Leben und Tod gehen kann.
"Wir müssen diesen worst case immer vor Augen haben. Und das nicht ausblenden. Gerade junge Menschen, die sich gut und stark und fit finden, neigen dazu, sich nicht mit dem Thema Tod auseinanderzusetzen. Da hatte ich immer den schwierigen Part zu sagen: Es geht um die letzten Dinge auch."
Kritik an seiner Tätigkeit damals als Soldaten-Seelsorger: Nein, meint Hinke im Wohnzimmer des Pfarrhauses, in dem sich eine Martin-Luther-Playmobil-Figur in friedlicher Koexistenz mit einer Bach-Schallplatte übt. Nein, das habe es selten gegeben.
"Hier vor Ort erlebe ich, dass eine große Sympathie für das Gefechtsübungszentrum ist. Dass Menschen sagen: Das ist in Ordnung, dass das stattfindet. Dass diese Arbeit geleistet wird. Im Verhältnis zu Schnöggersburg is' man hier, glaube ich, etwas zweigespalten."
Krieg als Teil einer Live-Simulation
Schnöggersburg – das ist die Übungsstadt, die die Bundeswehr gerade auf dem Gelände des Gefechtsübungszentrums aus dem Boden stampft.
"Weil das 'ne ganz neue Dimension bekommt. Dann sagen auch Menschen: Warum habt ihr nicht in Hütten die alte Liegenschaft als Übungsstadt hergerichtet? Da runzeln manche Menschen schon die Stirn. Muss so viel Geld in die Hand genommen werden, um dieses Szenario abzubilden?"
Eine Retortenstadt, quasi als Lebensversicherung für Bundeswehr-Soldaten: Knapp 17 Kilometer Straßen sind schon verbaut, 350 Meter U-Bahn, diverse Häuser und ein sogenannter Sakralbau. Anfang 2018 soll es losgehen, werden sich Bundeswehrsoldaten in Häuser verschanzen, Scharfschützen auf den Dächern lauern. Krieg im 3-D-Format, als Teil einer Live-Simulation, ohne dass auch nur ein Schuss fällt: Die Bundeswehr lässt sich ihr Vorzeigeprojekt einiges kosten. 140 Millionen Euro, geplant waren eigentlich 100. Für Thomas Herzog, den Pressesprecher des Gefechtsübungszentrums, gut investiertes Geld.
"Auch Afghanistan: Kabul, Mazar-e-Sharif - sind ja auch nicht gerade kleine Städte. Es wird also immer wieder darauf hinauslaufen, dass die Soldaten, die für diese Auslandseinsätze vorgesehen sind, so effektiv wie möglich dafür auszubilden sind. Und ausgebildet werden müssen."
Herzog hat sich an diesem verregneten Herbstmorgen Verstärkung geholt. Neben ihm im Besprechungszimmer sitzt Versorgungs-Offizier Thomas P. Er ist für die ganze Logistik zuständig:
"Vom Kampfpanzer bis hin zur kleinsten Ausstattung. Nehmen wir an: Ein Spaten. Oder irgendwas."
Thomas P. ist in Gardelegen geboren; seitdem er eigene Familie hat, wohnt er nicht allzu weit entfernt, in Bismarck. Tiefste Altmark. Sprich: viel Platz, lange Wege und mit etwas Glück noch ein Verein im Ort. Als sozialer Anker, wie der Fußballverein, bei dem sich der Bundeswehrmann als Trainer engagiert. Zwei Mal die Woche die F-Jugend. Alles ganz easy, meint der Familienvater. Genau wie das mit der beruflichen Akzeptanz.
"Gerade Sachsen-Anhalt – sind ja viele noch verbunden mit der Armee durch die NVA. Haben da ihre entsprechenden Erfahrungen gemacht. Man kommt leicht ins Gespräch über solche Themen. Die fragen dann halt: Wie ist das heute? Im Gegensatz zu früher? Sagen natürlich: Ja, früher hatten wir es viel schwerer in der Armee. Die stehen dem alle wirklich aufgeschlossen und positiv gegenüber, muss man wirklich sagen."
Das war nicht immer so. Nach dem Abzug der Sowjets wollten die meisten hier nur ihre Ruhe - der Landtag Sachsen-Anhalts beschloss 1991 die Heide zivil zu nutzen. Bundestag und Bundeswehr aber hatten andere Pläne. Mit dem sogenannten "Heide-Kompromiss" köderten sie die Bevölkerung - mit dem Versprechen neue Jobs zu schaffen. Tatsächlich entstanden 1200 Arbeitsplätze – bei der Bundeswehr und dem Technikzulieferer Rheinmetall. Die zusätzliche Kaufkraft für die strukturschwache Region gab es oben drauf: Soldaten – hieß es – seien nach Feierabend auch nur Konsumenten. Jemandem wie Malte Fröhlich wird da ganz anders. Für den Mann von der "Bürgerinitiative Offene Heide" ist das Gefechtsübungszentrum vor allem eines: ein rotes Tuch.
"Die Motivation ist der Blick in den Abgrund. Eine der wesentlichen Aufgaben der Bundeswehr ist nicht mehr Verteidigung, sondern den Zugang zu Rohstoffquellen und Märkten abzusichern. Ne koloniale Aufgabenstellung wird von der Politik ganz offen formuliert."
Der Friedensaktivist wohnt zwar außerhalb von Gardelegen, in Tangermünde, doch so oft es geht, macht er sich auf den Weg zum Gefechtsübungszentrum. Erst vorgestern war er wieder auf dem unwegsamen Gelände unterwegs.
"Wir sind zu wenig. Ja?! Wenn ständig Leute auf dem Platz rum turnen, dann wäre keine Übung mehr möglich. Das heißt, es ist schon ne Anforderung an uns. Es müssten nur ständig zehn Leute auf dem Platz sein – dann ist die Übung hier vorbei."
Der Protest hat nachgelassen, das weiß auch Fröhlich. Selbst beim diesjährigen Protestcamp Ende Juli waren weniger Teilnehmer dabei als in den Jahren zuvor. Doch klein beigeben - das kommt für den Gründer der Bürgerinitiative nicht in Frage. Und so legt er es weiter darauf an, sich von der Polizei erwischen zu lassen: beim "illegalen Grenzübertritt".
"Immer wieder 100 Euro kriegen wir. Es wird nicht mehr. Obwohl - bei jedem Prozess sag ich immer dazu: Ich komme wieder. Geben se mir endlich mehr. Es hängt damit zusammen, dass ab 150 Euro der Klageweg uneingeschränkt möglich wäre. Und die wollen natürlich nicht, dass wir irgendwann mal vorm Verfassungsgericht stehen."
So bleibt es bei den 100 Euro – und "nur" einer Ordnungswidrigkeit. Unglaublich, das Ganze, findet Fröhlich. Genau wie die Sache mit dem Werbe-Brief, der heute in der Post lag – für seine Tochter. Absender: die Bundeswehr. Als potentieller Arbeitgeber. Fröhlich tippt sich an die Stirn.
(abr)