Sadistische Lust
500 Briefe erhielt "Spiegel"-Autor Peter Wensierski, nachdem 2003 sein Artikel über Praktiken in Kinder- und Jugendheimen erschienen war. Die vielen Betroffenen waren nicht nur durch körperliche und seelische Verletzungen gezeichnet, sondern auch durch das Tabu, ihr Leid publik zu machen. Wensierski recherchierte weiter. "Schläge im Namen des Herrn" ist ein wichtiges Buch und eine erste, wenn auch späte Hilfe für die Betroffenen.
"Es bleibt immer das Gefühl, als Mensch nichts wert zu sein. Dieses Gefühl sagt mir immer: Versteck dich, verkriech dich in eine Ecke, wo dich niemand sieht!"
Der Künstler Michael-Peter Schiltsky lebte von 1957 bis 1962 in einem Heim. So wie ihm wurde Hundertausenden Kindern das Gefühl, nichts wert zu sein, eingebläut. Über 3000 Kin-der- und Jugendheime gab es in den 50er und 60er Jahren; ganz überwiegend waren sie in kirchlicher Hand. Bei Diakonissinnen, Nonnen und Priestern herrschte die Vorstellung vor, die Zöglinge durch Züchtigungen und Drill zu gottgefälligen Menschen machen zu können und zu müssen. Selbst wenn man konzediert, dass Schläge auch in vielen Familien in jener Zeit gang und gäbe waren, so ist das, was den Heimzöglingen angetan wurde, entsetzliches Unrecht - auch im strafrechtlichen Sinne.
Kinder kamen damals schnell ins Heim. Oft reichte es, dass tagsüber kein Erwachsener zu Hause sein konnte, denn außerschulische Betreuungsmöglichkeiten gab es praktisch nicht. Und wehe, ein Kind war unehelich. Das allein galt als Verwahrlosungssymptom bei Mutter und Kind.
Viele versuchten zu fliehen, aber bis zur Volljährigkeit mit 21 gab es aus den Heimen nur selten ein Entkommen. Wer dort seit früher Kindheit wohnen musste, wurde gezeichnet fürs ganze Leben.
"Schlimmer als der Schmerz der körperlichen Züchtigungen selbst war ... das ständige Ge-fühl der Angst, die jeden Einzelnen von morgens bis abends begleitete. Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit, der Verlassenheit ... verfolgt sie bis heute."
500 Briefe erhielt der Spiegel-Autor Peter Wensierski, nachdem 2003 sein Artikel über die Jahrzehnte langen Praktiken in Kinder- und Jugendheimen erschienen war. Die Briefflut zeig-te, dass die vielen Betroffenen nicht nur durch körperliche und seelische Verletzungen ge-zeichnet sind, sondern auch durch das Tabu, ihr Leid publik zu machen. Oft haben sie ihre Vergangenheit als Heimkind sogar in der eigenen Familie verschwiegen, denn diese Herkunft war ein Stigma ersten Ranges. Die verantwortlichen Ämter und die Heimbetreiber, allen voran die großen christlichen Kirchen, hatten auch deshalb Erfolg damit, ihre traumatisierende, ihre "Schwarze Pädagogik" zu verschleiern. Nur in seltenen Ausnahmen stellen sich Einzelne ihrer persönlichen Schuld oder der Geschichte ihrer Institutionen.
Das mag auch damit zusammenhängen, dass ein Ende des Schreckens nicht durch eigene Erkenntnis bewirkt wurde, sondern von außen, von den 68ern, von Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader und politisierten Studenten, für die die so genannten "Kinderknäste" ein besonders eklatantes Beispiel unhaltbarer gesellschaftlicher Zustände waren. Einige der damals befreiten Heimkinder, Peter-Jürgen Book beispielsweise, wurden später selbst gewalttätige Mitglieder der terroristischen RAF.
Peter Wensierski erzählt am Ende seines Buches auch von diesem Teil der Geschichte. Vor allem aber bündelt er Interviews mit ehemaligen Heimkindern. Es sind Berichte über unglaubliche Brutalität und erschütternde Gefühllosigkeit, über Kinder, die mit sadistischer Lust mit Schläuchen und Knüppeln geschlagen werden, die für Tage allein in Arrestzellen ohne Fenster und Matratzen landen, die gezwungen werden, erbrochenes Essen zu sich zu nehmen, über Kinder, denen jegliche Intimsphäre vorenthalten wird, die nicht mal einen Teddy mit ins Bett nehmen dürfen.
Die Heimkinder mussten lernen, in Reih und Glied zu marschieren und weder beim Essen noch bei der Arbeit zu sprechen. Manche wurden über Jahre mit Psychopharmaka ruhiggestellt. All das geschah, weil jede menschliche Regung als Schwäche oder Sünde galt. All das geschah im Namen des christlichen Gottes. Schwere psychische Erkrankungen waren in vielen Fällen die Folge, nicht nur bei Josef Doll.
"Wenn bei Josef eine, wie er sagt 'christliche Psychose' beginnt, zieht es ihn unweigerlich in eine Münchner Kirche. Dort sitzt er dann so lange in einer Bank, bis die Angst nachlässt. Diese Angst hat mit seiner Kindheit und Jugend zu tun: Josef Doll, Jahrgang 1952, verbrachte die ersten 18 Lebensjahre in katholischen Kinderheimen. Der einzige Ort, wo ihn die Nonnen nicht schlugen, war die Kirche."
Peter Wensierskis wichtiges Buch ist eine erste, wenn auch späte Hilfe für die Betroffenen. Endlich wird ihnen bestätigt, dass sie nicht selbst Schuld hatten, sondern dass ihnen schlimmstes Unrecht angetan wurde. Für alle anderen frischt das Buch die Erinnerung an Zeiten auf, in denen Staat und Kirchen weitgehend übereinstimmten in ihrem Bestreben, Kinder zu entrechten und zu beugen - nicht nur Heimkinder.
Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heim-kinder in der Bundesrepublik
DVA, München 2006, 240 Seiten
Der Künstler Michael-Peter Schiltsky lebte von 1957 bis 1962 in einem Heim. So wie ihm wurde Hundertausenden Kindern das Gefühl, nichts wert zu sein, eingebläut. Über 3000 Kin-der- und Jugendheime gab es in den 50er und 60er Jahren; ganz überwiegend waren sie in kirchlicher Hand. Bei Diakonissinnen, Nonnen und Priestern herrschte die Vorstellung vor, die Zöglinge durch Züchtigungen und Drill zu gottgefälligen Menschen machen zu können und zu müssen. Selbst wenn man konzediert, dass Schläge auch in vielen Familien in jener Zeit gang und gäbe waren, so ist das, was den Heimzöglingen angetan wurde, entsetzliches Unrecht - auch im strafrechtlichen Sinne.
Kinder kamen damals schnell ins Heim. Oft reichte es, dass tagsüber kein Erwachsener zu Hause sein konnte, denn außerschulische Betreuungsmöglichkeiten gab es praktisch nicht. Und wehe, ein Kind war unehelich. Das allein galt als Verwahrlosungssymptom bei Mutter und Kind.
Viele versuchten zu fliehen, aber bis zur Volljährigkeit mit 21 gab es aus den Heimen nur selten ein Entkommen. Wer dort seit früher Kindheit wohnen musste, wurde gezeichnet fürs ganze Leben.
"Schlimmer als der Schmerz der körperlichen Züchtigungen selbst war ... das ständige Ge-fühl der Angst, die jeden Einzelnen von morgens bis abends begleitete. Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit, der Verlassenheit ... verfolgt sie bis heute."
500 Briefe erhielt der Spiegel-Autor Peter Wensierski, nachdem 2003 sein Artikel über die Jahrzehnte langen Praktiken in Kinder- und Jugendheimen erschienen war. Die Briefflut zeig-te, dass die vielen Betroffenen nicht nur durch körperliche und seelische Verletzungen ge-zeichnet sind, sondern auch durch das Tabu, ihr Leid publik zu machen. Oft haben sie ihre Vergangenheit als Heimkind sogar in der eigenen Familie verschwiegen, denn diese Herkunft war ein Stigma ersten Ranges. Die verantwortlichen Ämter und die Heimbetreiber, allen voran die großen christlichen Kirchen, hatten auch deshalb Erfolg damit, ihre traumatisierende, ihre "Schwarze Pädagogik" zu verschleiern. Nur in seltenen Ausnahmen stellen sich Einzelne ihrer persönlichen Schuld oder der Geschichte ihrer Institutionen.
Das mag auch damit zusammenhängen, dass ein Ende des Schreckens nicht durch eigene Erkenntnis bewirkt wurde, sondern von außen, von den 68ern, von Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader und politisierten Studenten, für die die so genannten "Kinderknäste" ein besonders eklatantes Beispiel unhaltbarer gesellschaftlicher Zustände waren. Einige der damals befreiten Heimkinder, Peter-Jürgen Book beispielsweise, wurden später selbst gewalttätige Mitglieder der terroristischen RAF.
Peter Wensierski erzählt am Ende seines Buches auch von diesem Teil der Geschichte. Vor allem aber bündelt er Interviews mit ehemaligen Heimkindern. Es sind Berichte über unglaubliche Brutalität und erschütternde Gefühllosigkeit, über Kinder, die mit sadistischer Lust mit Schläuchen und Knüppeln geschlagen werden, die für Tage allein in Arrestzellen ohne Fenster und Matratzen landen, die gezwungen werden, erbrochenes Essen zu sich zu nehmen, über Kinder, denen jegliche Intimsphäre vorenthalten wird, die nicht mal einen Teddy mit ins Bett nehmen dürfen.
Die Heimkinder mussten lernen, in Reih und Glied zu marschieren und weder beim Essen noch bei der Arbeit zu sprechen. Manche wurden über Jahre mit Psychopharmaka ruhiggestellt. All das geschah, weil jede menschliche Regung als Schwäche oder Sünde galt. All das geschah im Namen des christlichen Gottes. Schwere psychische Erkrankungen waren in vielen Fällen die Folge, nicht nur bei Josef Doll.
"Wenn bei Josef eine, wie er sagt 'christliche Psychose' beginnt, zieht es ihn unweigerlich in eine Münchner Kirche. Dort sitzt er dann so lange in einer Bank, bis die Angst nachlässt. Diese Angst hat mit seiner Kindheit und Jugend zu tun: Josef Doll, Jahrgang 1952, verbrachte die ersten 18 Lebensjahre in katholischen Kinderheimen. Der einzige Ort, wo ihn die Nonnen nicht schlugen, war die Kirche."
Peter Wensierskis wichtiges Buch ist eine erste, wenn auch späte Hilfe für die Betroffenen. Endlich wird ihnen bestätigt, dass sie nicht selbst Schuld hatten, sondern dass ihnen schlimmstes Unrecht angetan wurde. Für alle anderen frischt das Buch die Erinnerung an Zeiten auf, in denen Staat und Kirchen weitgehend übereinstimmten in ihrem Bestreben, Kinder zu entrechten und zu beugen - nicht nur Heimkinder.
Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heim-kinder in der Bundesrepublik
DVA, München 2006, 240 Seiten