Religion für Unreligiöse
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Wer in Israel das Wort Jeschiwa, Talmudschule, hört, der hat ein klares Bild vor Augen: bärtige Männer mit schwarzen Hüten. Doch auch säkulare Frauen und Männer wollen wissen, was im Talmud steht. Ein Besuch in der „säkularen Jeschiwa“ in Tel Aviv.
Talmud-Unterricht im Süden von Tel Aviv. Hier lesen und diskutieren die Studierenden, wie Rabbiner vergangener Epochen die Ge- und Verbote der Tora ausgelegt haben. In dem kleinen, spärlich eingerichteten Unterrichtsraum bespricht der Dozent, Rabbiner Leon Wiener Dow, die Frage nach der Intention des eigenen Handelns. Der Rabbiner erklärt, dass es im Talmud vielmehr um die eigentliche Handlung und deren Konsequenzen, weniger um die Intention geht.
Sechs junge Frauen um die 18 Jahre sitzen an den kreisförmig aufgestellten Tischen. Sie tragen Jeans, Sweatshirts und Turnschuhe, stellen kritische Nachfragen. Von religiösen Symbolen oder Kleidung keine Spur. Nur Rabbiner Leon Wiener Dow trägt eine Kippa, die inmitten seiner graubraunen Locken leicht übersehen werden kann. Das hier ist eben keine gewöhnliche Talmudschule. Es ist die säkulare, also weltliche Jeschiwa der Organisation BINA. Programmleiter Dan Herman erklärt, was dahinter steckt:
"Die jüdische Kultur gehört uns allen"
"Die Idee der säkularen Jeschiwa ist, dass die jüdische Kultur und die jüdischen Texte uns allen gehören und wir als säkulare Juden Teil der israelischen Gesellschaft auch eine Verantwortung dafür haben, diese Kultur zu definieren. In der säkularen Jeschiwa beschäftigen wir uns mit jüdischen Texten, mit unserer jüdischen Identität und Kultur. Wir gehen eben nicht an religiöse Institute und eignen uns nur deren Sicht der Dinge an. Das hier ist unser Judentum im Staat Israel."
Damit trifft die säkulare Jeschiwa einen Nerv im Judentum, nämlich die Frage, was das Judentum eigentlich ist: Eine Religion, wie das Christentum oder der Islam? Oder auch eine Nationalität? Identität? Israel definiert sich als jüdischer Staat, im nationalen Sinn. Die Ausrichtung des religiösen Lebens haben die Staatsgründer den Orthodoxen überlassen.
Dan Herman: "Das hat für Verwirrung gesorgt, was unsere Kultur ist, die ja immer auch über die Religion definiert war. Was hat es mit unserer Kultur auf sich? Wer sind wir als Volk des Buches? Was fangen wir an mit dem Buch, der Tora, wenn wir nicht religiös sind? Was Israel einzigartig macht, ist, dass wir diese Verbindung haben. Auch wenn ich als säkularer Jude entscheide, mein Leben nicht an religiösen Gesetzen auszurichten und Religion nicht zu praktizieren, habe ich dennoch die Identität, die verwurzelt ist in dieser Kultur und den Werten und Traditionen und all dem, was wir in den jüdischen Texten haben."
Viele der Studierenden sind auf der Suche nach der eigenen Identität als Juden. Eine von ihnen ist die 18-jährige Kylie aus New Jersey, die am einjährigen internationalen Programm teilnimmt.
"Hier herrscht Pluralismus"
Kylie: "Ich wusste nicht, auf was ich mich da einlasse. "Säkulare Jeschiwa", diese beiden Worte zusammen hatte ich nie zuvor gehört. Ich bin zwar in eine jüdische Grundschule gegangen, später dann aber auf eine normale Highschool. Es ist großartig, jetzt den Tanach, den Talmud, jüdische Philosophie zu studieren. Der Unterschied zu früher ist die Art zu lernen. Hier herrscht Pluralismus. Wir analysieren die Texte nicht zwingend im religiösen Kontext, sondern moderner. Ich fühle mich offener, wenn ich die Texte heute lese."
Das Unterrichtsklima ist liberal, man könnte sagen: reformorientiert. Auch wenn sich Rabbiner Leon Wiener Dow selbst keiner bestimmten jüdischen Strömung zuordnen will. Was ihm wichtig ist: Er will seiner Klasse vermitteln, dass die alten jüdischen Texte bedeutungsvoll sind – auch wenn sie nicht eins zu eins auf die heutige Zeit übertragen werden können:
Rabbiner Leon Wiener Dow: "Heute ging es in einem Text um ein Beispiel, das für uns so nicht relevant ist: Es ging darum, dass man einen Händler nicht fragen darf, wieviel etwas kostet, wenn man die Ware nicht auch kaufen will. Heutzutage machen wir das ja ständig. Aber auch wenn dieses Beispiel nicht relevant ist, die tiefere Idee dahinter ist sehr wichtig. Es geht darum, wie ich kommuniziere und ob es da eine Absicht gibt, einen normativen Aspekt meiner Sprache, den ich ernst nehmen muss."
Taten werden großgeschrieben
Es geht also darum, sich seiner eigenen Sprache bewusst zu werden. Leon Wiener Dow, der in jüdischer Philosophie promoviert hat, geht es nicht nur um die das Studium der Texte, sondern auch um Taten.
"Es ist falsch, den Text nur auf akademische, distanzierte Weise zu betrachten. Der einzig richtige Weg, jüdische Texte zu lernen ist, indem man sie als Jude ernst nimmt und fragt, was von uns verlangt wird. Ich habe heute meinen Schülern gesagt: Wenn wir mit diesem Kapitel über Sprache und unsere Art zu sprechen fertig sind und ihr nicht darüber nachdenkt, wie ihr sprecht, dann habe ich als Lehrer versagt."
Gutes tun in der Suppenküche
Das ist auch die Philosophie der Organisation BINA. Sie bezeichnet sich selbst als "Jüdische Bewegung für sozialen Wandel". Intellektuelle und Lehrende aus der Kibbuz-Bewegung haben die Gruppe in den 90er-Jahren gegründet. Es war die Zeit nach dem Attentat auf den damaligen Premier Yitzhak Rabin, der von einem religiösen Fanatiker erschossen wurde.
Wie konnte das geschehen, im Namen des Judentums? Einige Säkulare wollten sich stärker mit ihren jüdischen Wurzeln befassen – und daraus etwas für ihr eigenes Leben ableiten. Soziales Handeln gehört also zum Jeschiwa-Programm. Die 18-jährige Lilly aus London hilft nebenher in einer Suppenküche:
"Wir lernen, das, was wir lesen, im täglichen Leben anzuwenden. In einem Unterrichtsmodul geht es um soziale Gerechtigkeit und was uns Talmud und Tora darüber lehren. Gleichzeitig machen wir Freiwilligendienste. Wir setzen die Werte, die wir lernen, in die Praxis um."
Auch wenn BINA nach eigenen Angaben unparteiisch ist, kann man die Organisation wohl guten Gewissens als liberal bezeichnen. Andere Ansichten, auch kritische, werden nicht ausgeblendet – im Gegenteil. Für die Jeschiwa-Teilnehmer ist das manchmal auch eine Herausforderung, erklärt Studentin Kylie aus den USA:
Treffen mit palästinensischem Buchladen-Besitzer
"Anfangs war das für mich schwierig: Ich komme aus einem sehr zionistischen Umfeld. In der Schule habe ich nur die schönen Dinge gelernt über das Land, in dem Milch und Honig fließen. Und hier bin ich nun und sehe auch ganz andere Dinge. Wir sind nach Ost-Jerusalem gefahren und haben dort auch mit einem palästinensischen Buchladen-Besitzer gesprochen. Wow, da war plötzlich ein neuer Blick.
Anfangs hat mich das nervös gemacht: Was soll ich denken? Ich muss mich jetzt für eine Seite entscheiden! Dann habe ich gemerkt, dass ich hier ganz viele verschiedene Infos bekomme, die möglicherweise nicht ganz neutral sind, und ich darf diese Infos nutzen und damit Israel so mitgestalten, wie ich das will."
Kylie will nach dem Jahr an der säkularen Jeschiwa den Armeedienst absolvieren und Aliyah machen, das heißt, als Jüdin in Israel einwandern. Der Unterricht, so sagt sie, helfe ihr, neu über ihr Judentum und ihre jüdische Identität, aber auch über Israel nachzudenken und all das zu nutzen, um das Land demnächst als neue Bürgerin mitzugestalten.