"Die größte Farce meiner Generation"
Der Brexit frustriere ihn, sagt der britische Sänger Tom Odell. Er hat ein neues Album herausgebracht, das nach der fiktiven Straße "Jubilee Road" benannt ist: eine Metapher für Gemeinschaft und Nachbarschaft.
Martin Böttcher: Sie haben eine neue Plate, sie heißt "Jubilee Road". Froh, dass die endlich im Kasten ist?
Tom Odell: Ja. Ich bin froh, dass die endlich draußen ist. Es hat einfach lange gedauert. Ich glaube, ich habe im Januar des vergangenen Jahres damit angefangen, und dann, im Februar oder März dieses Jahres, war die Platte erst fertig. Ein langer Prozess also.
Böttcher: Was ist denn das Nervigste daran, wenn man so ein Album aufnimmt?
Langer Produktionsprozess
Odell: Was ich immer nerviger finde, ist, dass ich die Musik nicht einfach auf den Markt werfen kann, wenn ich sie fertig habe. Es ist gar nicht mal so, dass das Aufnehmen so lange dauern würde. Aber von der Aufnahme bis zum Veröffentlichungstag dauert es dann noch mal rund sechs Monate. Ich glaube, ich wäre um einiges produktiver, wenn ich die Möglichkeit hätte, alle sechs Monate ein Album zu veröffentlichen.
Böttcher: Aber theoretisch wäre das doch möglich. Leute wie Kanye West oder auch, Nicki Minaj, die machen doch so etwas.
Odell: Stimmt, ich weiß. Jedenfalls, was ich steigern möchte, ist meine Produktivität. Die Kreativität und die Inspiration sind da, ich schreibe genug Songs. Aber da stehe ich eben im Moment.
Böttcher: Sie hatten ja diesen Riesenhit "Another Love", dem man wirklich nicht mehr entgehen konnte, dass offizielle Video bei Youtube, ich habe es mir gerade noch mal angeschaut, rund 180 Millionen Mal angesehen. Der Song allein bei Spotify: 190 Millionen Mal angehört. Ist so ein Erfolg Fluch oder Segen?
Odell: Ohne Zweifel ein Segen. Gäbe es diesen Song nicht, hätte ich nicht die Möglichkeiten, meine Musik nach meinen Vorstellungen zu machen: also in einem richtigen Studio aufzunehmen, mit meiner Band. Ich könnte auch nicht auf Tour gehen, wie ich es gemacht habe. Dieses Lied hat mich in unwahrscheinlich viele Länder gebracht. Für Musiker ohne so einen Hit wird es immer schwieriger, sich über Wasser zu halten. Viele meiner Freunde sind ja Musiker, und deren Situation ist ganz anders als meine. Und ich glaube, Schuld daran hat Spotify. Heute ist es oft nur ein einzelner Song eines Künstlers, der im Fokus steht, das Album zählt wesentlich weniger als früher. Daher erwarten die Leute auch nicht mehr, aber eben auch nicht weniger als diesen Hit von dir. Aber es ist eben ziemlich schwer, so einen Ausnahme-Song zu schreiben. Die Musiker, die sich für tiefgründiges Songwriting interessieren, die nicht an einer schnellen Popnummer interessiert sind, die haben es schwer auf Spotify.
Der Erfolg kam überraschend
Böttcher: War es Ihnen denn damals klar, als Sie "Another Love" geschrieben haben, als es dann im Kasten war, als es aufgenommen war, dass das so ein großer Hit, vielleicht Ihr großer Hit, werden würde?
Odell: Nein. Selbst das Label hat nicht daran geglaubt. Die wollten das raushauen und dann schnell eine andere Single nachschieben. Mir gefiel der Songtext. Aber es gab andere Songs auf meinem ersten Album, von denen ich glaubte, sie würden kommerziell erfolgreicher und zugänglicher sein.
Böttcher: Wie ist das mit den Geschichten, die Sie auf dem Album erzählen? Es gibt da zum Beispiel, ja, so ein grumpy old Nachbar wird da beschrieben, ein grummeliger, alter Nachbar. Sind das real existierende Geschichten, real existierende Menschen?
Odell: Es gibt wirklich einen alten Mann, der da in der Straße wohnt, von der ich vorhin erzählt habe. Der wohnt da in einem Haus, das ganz von Blumen umgeben ist. Tatsächlich ist er im Laufe der Zeit ein guter Freund von mir geworden. Manchmal besuchen wir uns gegenseitig. Er ist nicht grummelig, aber, wie im Song, fegt er immer das Laub vom Bürgersteig. Außerdem hat er im Song eine lilafarbene Latzhose an, in echt ist sie zwar nicht lila, aber eine Latzhose hat er. Ausgehend von dem Mann, den ich damals noch nicht so gut kannte, habe ich meine Fantasie spielen lassen.
Odell: Es gibt wirklich einen alten Mann, der da in der Straße wohnt, von der ich vorhin erzählt habe. Der wohnt da in einem Haus, das ganz von Blumen umgeben ist. Tatsächlich ist er im Laufe der Zeit ein guter Freund von mir geworden. Manchmal besuchen wir uns gegenseitig. Er ist nicht grummelig, aber, wie im Song, fegt er immer das Laub vom Bürgersteig. Außerdem hat er im Song eine lilafarbene Latzhose an, in echt ist sie zwar nicht lila, aber eine Latzhose hat er. Ausgehend von dem Mann, den ich damals noch nicht so gut kannte, habe ich meine Fantasie spielen lassen.
Frustration über den Brexit
Böttcher: Die britische Gesellschaft ist zerrissen, Stichwort Brexit. Was bedeutet das für Sie persönlich, wenn Großbritannien jetzt nicht mehr zur EU gehören wird?
Odell: Ich denke, das ist die größte Farce meiner Generation. Ich rede oft mit meiner Band und meinen Freunden darüber. Bei mir wächst die Frustration darüber. Auch darüber, dass ich mich immer so sehr darüber aufrege. Ich hatte diese wunderbare Möglichkeit, durch meine Musik die Welt kennenzulernen, das ist mein Privileg. Viele Briten haben das nicht. Aber wenn sie nur auch so viel reisen könnten, ich bin mir sicher, sie würden den Brexit auch für eine reine Tragödie halten. Das Traurigste am Brexit ist, dass wir in den vergangenen zweieinhalb Jahren, seit dem Referendum, schon wahnsinnig viele Europäer verloren haben. Sie haben die Insel verlassen. Wir haben sie spüren lassen, dass sie nicht willkommen sind. Wir sollten uns schämen! Wir sollten ein offenes, gastfreundliches Land sein. Wir waren immer ein Land, das, im Großen und Ganzen, für das Gute stand. Und es ist so traurig, Leute sozusagen wegzuschicken.