Mitwirkende
Es sprachen: Cathleen Gawlich und Frauke Poolmann
Regie: Beatrix Ackers
Technische Realisation: Andreas Stoffels
Redaktion: Susanne Arlt
Die "schwarze Carmen" von Berlin
31:00 Minuten
Um der Rassentrennung in den USA zu entgehen, kommt die Opernsängerin Vera Little 1958 nach Berlin. An der Oper wird sie zum Star und hat doch als Afroamerikanerin immer wieder mit Diskriminierung zu kämpfen. Die Kränkungen lächelt sie weg.
Ein Friedhof mitten im Industriegebiet im Südwesten Berlins. Keine pompösen Grabsteine. Stattdessen, unter Bäumen, Flächen mit kleinen dunkelgrünen Namensschildern. Auf einem ist zu lesen: Vera Little-Augustithis. Es hat lange gedauert, diesen Ort zu finden. Hier also ist eine bemerkenswerte Lebensgeschichte zu Ende gegangen. Eine Geschichte von Wagemut und Talent, von Diskriminierung und Akzeptanz, von der Suche nach Glück und Heimat.
Vera Little. Mezzosopranistin. US-Amerikanerin. Berliner Kammersängerin. Lyrikerin. Diva.
"Ja, wenn man Vera Little hört in Berlin und wenn man weiß, sie kommt wieder in die Städtische Oper, dann heißt das natürlich, als Carmen. Aber in den letzten drei Monaten, die Sie weg waren von Berlin, haben Sie natürlich auch anderes gesungen."
So heißt es in der Berliner Abendschau vom 4. September 1958, die Vera Little interviewt.
"Ja, ich war in Brüssel, in Paris, in Süddeutschland, das heißt Baden-Baden, Stuttgart, Frankfurt und München."
"Und was haben Sie gesungen?"
"Beethoven Neunte Sinfonie und Liederabende in Baden-Baden, nicht wahr, und im Rundfunk habe ich Lieder gesungen, Brahms, Mahler und so."
"Und was haben Sie gesungen?"
"Beethoven Neunte Sinfonie und Liederabende in Baden-Baden, nicht wahr, und im Rundfunk habe ich Lieder gesungen, Brahms, Mahler und so."
Eine "schwarze Carmen" - 1958 eine Sensation
Eine adrette junge Frau im schulterfreien Etuikleid und weißen langen Handschuhen berichtet dem SFB-Reporter von ihren Erfolgen als internationaler Star. Es scheint vergessen, dass eben diese junge Frau vor gerade mal einem halben Jahr in Berlin für viel Aufruhr gesorgt hat.
"Es war eine Sensation, als Ebert 1958 die Vera Little als Carmen vorstellte", erinnert sich Heinz Strasiewsky, langjähriger Statist an der Deutschen Oper Berlin. Damals heißt sie noch Städtische Oper Berlin und residiert im altehrwürdigen Theater des Westens am Zoo. Am Premierenabend, ihrem ersten Auftritt in Berlin, steht Heinz Strasiewsky also mit Vera Little am 4. Februar 1958 auf der Bühne.
"Ihr erster Auftritt ist ja im ersten Bild, wenn der Chor… Carmen, wo ist sie, und dann hieß es, sie ist da, Carmen Carmencita, und dann sprang sie auf die Bühne und dabei schmiss sie ihren Rock bis zu dem Punkt, wo man eigentlich sagt: Hallo, ist ja sehr weit, was du da machst. Und alles machte ohh, der Chor, der glotzte und sie mussten ihn ansingen und sie spielte hervorragend die große Verführerin, na ja, wie das so ist in Carmen, und dann ging es weiter."
Doch nicht das gewagte Spiel erregt die Gemüter. Diese Carmen ist anders.
Gemischte Reaktionen beim Premierenpublikum
"Eine dunkelhäutige Frau als Carmen einzusetzen, das war schon ein gewisser Mut und der wurde ja auch belohnt durch eine erfolgreiche Premiere. Aber es gibt eben auch die Kritiker, wie immer", sagt der Berliner Kammersänger Klaus Lang.
"Die Deutschen waren Schwarze nicht gewöhnt", so Opernkritiker Geerd Heinsen. "Und wenn eine schwarze Frau auf einer Bühne auftrat, in einer sehr konventionellen Rolle mit so einer Garnitur auf dem Kopf und so, was ja eher auch das Lächerliche streift, dann war das für Ältere wahrscheinlich schon schwierig."
Heftige Buh-Rufe stören den Schlussapplaus am Premierenabend. Zeitungen berichten von Sprechchören "Little go home". Von "heftig lärmender Ablehnung". Die meisten Proteste gehen von der Galerie aus, wo überwiegend jüngeres Publikum sitzt. Oft aus dem Umfeld der Berliner Hochschule für Musik, erinnert sich Heinz Strasiewsky:
"Der dritte Rang war immer besetzt mit superkritischen Menschen, die sich auch nicht scheuten, unter die Leute zu treten und mit ihnen zu diskutieren, warum und wieso. Es gab ja viele Vorurteile gegen Farbige."
"Little go home"
Nicht nur das. Die Wut der konservativen Hörerschaft richtet sich mal gegen die moderne atonale Musik, mal gegen die Besetzungspolitik des Opernhauses, das gern Solistinnen und Solisten von außerhalb hinzuzieht. Teils aus Verbundenheit mit den USA, teils aus Mangel an einheimischen Stars. Die Bühne der Städtischen Oper ist damals ein Schauplatz gesellschaftlicher Ressentiments.
Und so steht Vera Little also da. Im Scheinwerferlicht. Mit Locke auf der Stirn. Sie spricht nur wenig deutsch. Sie weiß kaum etwas von den lokalen theaterinternen Kämpfen. Sie steht auf der Bühne und hört "Little go home".
Die Tumulte des Premierenabends wiederholen sich nicht. Vera Little gibt noch vierzehn weitere Vorstellungen als die erste schwarze Carmen Berlins. Wahrscheinlich als die erste weltweit.
"Die Little war stimmlich eine Wucht", erinnert sich der Opernkritiker Geerd Heinsen. "Es war eine Carmen, wie man sie damals hörte, mit viel Brustton, orgelnd unten und oben eine gute Höhe. Damals war sie ein Ereignis."
Tochter eines Baptistenpredigers aus Memphis
Ein Ereignis. So erinnern sich viele bis heute an Vera Little. Stets wird sie als ein überwältigendes Naturtalent von inbrünstiger Darstellungskraft beschrieben. Eine Wucht. So sei sie wohl auch als Kind gewesen, erinnert sich Vera Little später in einem SFB-Interview:
"Ich hatte gedacht, es begann in der Schule, aber Mama sagte, ich sang mich immer in den Schlaf, also als Kind. Und später in der Grundschule habe ich am lautesten gesungen und dann wurde man auf mich aufmerksam."
Das war in Memphis, Tennessee. Dort wird Vera Pearl Little am 10. Dezember 1928 geboren. Eine baptistische Predigerfamilie. Mutter spielt Klavier, Vater Posaune. Viele Kinder. Vera Little ist ein Zwilling. Ihre Schwester stirbt im Teenager-Alter. Über diesen Verlust wird sie später oft sprechen und auch schreiben. Wie auch über das Leben in den 1930ern in den Südstaaten. Ein Leben im Zeichen der Rassentrennung. Und der Musik.
"Eines Tages hatte ich eine außergewöhnlich schöne Stimme gehört, eine dunkelhäutige auch, und dann ging ich nach Hause und sagte meiner Mutter, ich habe jemand besonders schön singen hören und ich will auch so singen. Dann sagte man mir, sie hat Unterricht gehabt. Ich habe nicht gewusst, was das war. Man sagte, Sie können nie so singen ohne Unterricht, und dann haben wir in der Stadt gesucht und wir fanden eine Lehrerin. Das war so teuer und wir hatten gedacht, das wird nicht gehen, aber langsam, aber sicher hat die Dame mich auch persönlich gerngehabt und sie gab mir sieben Wochen Unterricht."
Opernkarriere: wegen der Rassentrennung unvorstellbar
Gemeint ist keine geringere als Florence Cole Talbert, die erste schwarze US-Amerikanerin, die 1927 in Europa als Aida auftrat und mit großem Erfolg vom italienischen Cosenza bis nach Berlin tourte. Es muss eine Verheißung für die junge Vera Little gewesen sein, Erzählungen von Reisen und Theaterbühnen zu hören, die nicht von Schranken und Rassentrennung geprägt waren.
Sie geht nach Alabama. Dort, in Talladega, gibt es das älteste US-amerikanische Kunst-College für Schwarze. Einer ihrer Lehrer – ein jüdischer Emigrant aus Deutschland. Er macht Vera Little mit der Sprache bekannt und mit den Liedern von Brahms und Schumann. Nach fünf Jahren Gesangsstudium schließt sie mit einem pädagogischen Diplom ab. Doch eine Opernkarriere ist für sie wegen der Rassentrennung damals in den USA kaum vorstellbar. Um 1950 geht Vera Little nach New York. Irgendwann in dieser Zeit nimmt sie an einer "Blind Audition" teil. Ein wohl damals progressives Novum im Kulturbetrieb.
"Es hieß, dass man hinter einem Vorhang singen soll, und dann man hat gedacht, diese Frau, die die Königin von Saba von Gounod gesungen hat, soll vorkommen. Ich bin vorgekommen und ich war schwarz, aber trotzdem hab ich es bekommen. Man hat mich gewählt nicht wegen Hautfarbe oder sowas, sondern wegen meiner Stimme."
Traumziel Europa
Vermutlich kommt sie so zu ihrer ersten Opernrolle als Preziosilla in "La Forza del Destino" an der City Centre Opera New York. Wenig später ergattert Vera Little eine Nebenrolle in der Oper "Four Saints in Three Acts". Ein Werk, das für einen komplett schwarzen Cast konzipiert wurde. Der Star der Produktion – die legendäre Sopranistin Leontine Price.
Nach dem Erfolg am Broadway gastiert die Produktion in Paris. Dort, am Théâtre des Champs-Elysées, muss es wohl um Vera Little geschehen sein. Sie möchte unbedingt nach Europa. Zurück in den USA bewirbt sie sich um ein Fulbright-Stipendium. Die meisten Stipendiaten werden bei ihrer Bewerbung von ihren Universitäten unterstützt. Und 98 Prozent von ihnen sind weiß. Nur gerade mal zwei Prozent sind damals schwarz. Vera Little, die sich auf keine Hochschule berufen kann, bewirbt sich einfach selbst. Und erhält den Zuschlag, weil ihr Talent überzeugt.
"Und dann bin ich wieder nach Paris gekommen, um französische Lieder zu singen und lernen, und seit dann bin ich immer in Europa geblieben, weil, ich hatte eine sehr schwierige Zeit in Amerika gehabt und ich wollte das nicht mehr wiederholen."
Als das Geld des Fulbright-Stipendiums aufgebraucht ist, schlägt sich Vera Little mit selbst organisierten Konzerten durch. Sie nimmt, ganz im Trend, bei DECCA eine Spirituals-Platte auf. Überlegt sich, mit welchem Repertoire sie wohl das größte Publikumsinteresse wecken könnte. Und setzt auf altfranzösisches Liedgut. Prompt wird sie für über 70 Konzerte gebucht, die meisten in Deutschland.
"Und dann kam ich nach Berlin, um einen Liederabend zu machen und man hat die Idee gehabt, vielleicht könnte auch eine Dunkelhäutige Carmen singen. Ich habe die Oper nicht gekannt, aber ich habe studiert und in einem Monat hatte ich die ganze Partie gelernt."
Nach der Skandalpremiere und den vertraglich vereinbarten Vorstellungen nimmt Vera Little erstmal Abstand von den Berliner Bühnen. Sie geht auf Tour, putzt Klinken bei westdeutschen Rundfunkanstalten, gibt Spirituals-Konzerte. Eines Tages kommt ein Telegramm. Der Dirigent Vittorio Gui hat sie als Carmen gehört und will, dass sie im März 1959 bei einem Konzert im Vatikan vor Papst Johannes XXIII. singt. Bach-Kantaten. Als erste Schwarze überhaupt. Ein großer Erfolg für Vera Little. Sogar die New York Times veröffentlicht ein Foto der Sängerin und des Papstes Hand in Hand.
Berlin wird ihre zweite Heimat
Erst vier Jahre später singt Vera Little wieder in Berlin. Der neue Intendant Gustav Rudolf Sellner holt sie als Prinzessin Amneris in Giuseppe Verdis Oper Aida an die Deutsche Oper zurück. Von dieser Rolle hat Vera Little bereits bei ihrem allerersten Besuch in der Stadt in einem Interview gesprochen. Damals empört sie sich, warum für diese Mezzosopran-Partie nur weiße Sängerinnen gecastet werden. Sie wäre sogar bereit gewesen, sich dafür weiß zu schminken und prophezeite bitter in der Sprache von damals:
"Es wird noch sehr lange dauern, bis man Neger für weiße Rollen weiß schminkt."
Daran sieht man, dass in den 50er-Jahren schwarze Menschen noch keine selbstbestimmte Bezeichnung für sich haben. Vier Jahre später ist es bei Vera Little also soweit. Ein Gastauftritt in Berlin in Aida. Sie soll sehr nervös gewesen sein. Diesmal keine Buh-Rufe. Sellner bietet Vera Little einen Vertrag an. Mit ihr zeitgleich wird auch die schwarze Sopranistin Annabelle Bernard verpflichtet. Die Deutsche Oper residiert nun im modernen neuen Gebäude an der Bismarckstraße und gibt sich kosmopolitisch. Und so wird Berlin zu Vera Littles zweiter Heimat.
"Dass sie wieder zurückkam, ist ja ein Zeichen dafür, dass sie hier sich gut aufgehoben fühlte und ja auch durch unseren hohen Anteil an Ausländern generell sich dann wohlfühlte", erinnert sich Anke Schneider, die damals im künstlerischen Betriebsbüro der Deutschen Oper Berlin arbeitet. Vera Little wird für viele Inszenierungen eingespannt.
"Es war Himmel auf Erden für mich"
"Ich kam nach Berlin und hatte so viele Proben, also es war Himmel auf Erden für mich. Ich habe die negativen Sachen nicht gesehen bis alle anderen mich aufmerksam gemacht haben. Negativität hin und her, aber ich war so dankbar, dass ich überhaupt arbeiten durfte und Maestros gehabt habe, die mich korrigiert haben, es war für mich Himmel auf Erden."
Und: Vera Little liebt Berlin. Sie mag den Klang der Sprache, das Berlinerische, den Trubel. Wie schon beim ersten Besuch stürzt sie sich in das Leben der Stadt. Sie fährt einen schicken Sportwagen und verkehrt in Künstler-Lokalen am Charlottenburger Steinplatz. Sie ist Gast in Unterhaltungsshows im Fernsehen. Und jettet regelmäßig nach Wien, um als Gast-Solistin an der Staatsoper aufzutreten. Neben der Opernklassik wird Vera Little immer öfter für zeitgenössische Werke gebucht.
Der Komponist Boris Blacher, ein leidenschaftlicher Experimentator auf dem Feld der Musik und Technik, wird auf Vera Little aufmerksam. Die beiden gehen ein künstlerisches Wagnis ein, verbinden Elektronik mit Spirituals. Das Ergebnis präsentiert Blacher bei der legendären Veranstaltung "Musik im technischen Zeitalter" an der TU Berlin.
In der SFB-Aufzeichnung sitzt Vera Little auf der Bühne, eine helle Pelzstola um die Schultern, mit reglosem, ernsthaften Gesicht. Ein seltener Anblick. Denn bis heute erinnert man sich eher an eine andere Vera Little – opulent, lachend, einnehmend, in extravagante Gewände und Parfümwolken gehüllt.
Mit dem österreichischen Komponisten Gottfried von Einem geht sie eine Liebesbeziehung ein, eine der wenigen, die von Vera Littles Leben bekannt sind. Von Einem widmet ihr einige Lieder. Doch es soll nicht einfach gewesen sein. Der Berliner Verleger Wolf Jobst Siedler schildert in seinen Memoiren:
"In Gottfried von Einems Begleitung war die sehr begabte und sehr schwarze amerikanische Mezzosopranistin Vera Little, die ihn ständig vom Trinken abzuhalten suchte, wogegen er sich aber erfolgreich wehrte: "Husch, Husch, rauf auf die Palme, von der du doch erst gestern heruntergeklettert bist."
Kränkungen werden weggelächelt
Vera Little wird es nie schaffen, dem Rassismus ganz zu entkommen. Er begegnet ihr anfangs in den Theaterkritiken, aber auch im Alltag, in Läden und Krankenhäusern. Menschen, die sie anstarren, die auf Abstand gehen. Es gibt ihn selbst in dem Berlin, das Vera Little, die Operndiva, liebt und umjubelt. Noch 1993 schreibt sie in der Erzählung mit dem beklemmenden Titel GAU.
"Etwas in mir war jedoch müde geworden, müde, in einem fremden Land zu sein, eine von wenigen zu sein, die immer noch zu beweisen versuchten, dass ich und andere meiner Art wertvoll, edel und ehrenhaft genug waren, um mit Menschen einer anderen Art, eines anderen Volkes, einer anderen Rasse zu leben!"
Vera Littles Strategie in der Öffentlichkeit – alle Kränkungen weglächeln.
"Ich gehe geradeaus und niemand kann mich wirklich kränken, obwohl man mir sagt, was ich bin, ich weiß, was ich bin, und ich sage ja, ja, da bin ich, Schwarz, nicht wahr, wenn es Ihnen glücklich macht, sagen Sie es ruhig. Und alle diese Jahre habe ich noch nie einen Streit gehabt mit irgendeine, ich staune selbst. Niemals mit einer Kollege auf der Bühne über 30 Jahre, niemals. Ich verstehe das auch nicht, aber da bin ich gut gefahren, so."
Vera Little ist lieber Diva statt Opfer.
"Sie wollte sich nicht instrumentalisieren und das fand ich sehr richtig und gut, dafür ehre ich sie auch sehr", so der Opernkritiker Geerd Heinsen.
Unkonventionelle Ehe mit einem griechischen Mineralogen
1965 wird an der Deutschen Oper Berlin das neue Werk von Hans Werner Henze uraufgeführt: "Der junge Lord". Das Libretto stammt von Ingeborg Bachmann. Vera Little spielt darin die Köchin Begonia, eine beherzte Wuchtbrumme, ein Jamaika-Girl. Bachmann soll die Charaktere den Ensemblemitgliedern auf den Leib geschneidert haben. Bemerkenswert, mit welchen Worten sie Vera Littles Figur einführt: "Oh, kaltes Land, wo Leute gaffen..."
Fünf Jahre später. Vera Little ist ganz oben angekommen. Sie wird zur Berliner Kammersängerin ernannt. Und auch privat scheint sie endlich ihr Glück gefunden zu haben. Sie heiratet mit 42 Jahren den weltweit angesehenen griechischen Mineralogen Stylianos-Savvas Augustithis. Es wird keine klassische Ehe. Das Paar sieht sich selten. Beide sind beruflich sehr eingebunden in verschiedenen Ländern. Keine Kinder. Es gibt Gerüchte, die griechische Schwiegermutter sei mit ihr in der Familie nicht einverstanden gewesen. Doch Vera Little schwärmt öffentlich von ihrer unkonventionellen Ehe. Und auch auf ihren neuen Namen legt sie großen Wert, erinnert sich Anke Schneider.
"Nachdem sie geheiratet hatte, hat sie großen Wert darauf gelegt, diesen Doppelnamen zu führen und Little war... natürlich immer ging es ja schon los mit gewisser Ausländerfeindlichkeit, da wollte sie natürlich dies Augustithis dabei haben, deutsche Kultur und so weiter, Griechen und für uns im künstlerischen Betriebsbüro, ich war auch zuständig für die Plakatierung und da hatten wir ja immer nur so viel Platz und nun auch noch Little-Augustithis."
Opernstar und Dame der Gesellschaft
Nach mehr als zwanzig Jahren Fernbeziehung lässt sich das Paar scheiden. Familienleben ist für Vera Little wohl doch nicht bestimmt. Auch mit ihrer eigenen Verwandtschaft in Memphis ist das Verhältnis nicht sehr innig.
"Meine Mutter war hier von Amerika und da sie kein große Connoisseur von Musik ist, sie hat mich gesehen als Ulrica in Maskenball und war überhaupt nicht erstaunt oder ich habe gesagt, was sagst du dazu Mama, wie war ich, na ja, du warst genau wie deine Großmutter war. Meine Großmutter war Indianerin und sie trug auch immer die Haare so strähnig und lang und ging auch so langsam und erzählte immer die Zukunft und alles solche Sachen. Meine Mutter hat nur das zu sagen, also ich war sehr traurig, aber dann dachte ich na, das war ein Kompliment von meiner Mutter."
Was Vera Little im Privaten verwehrt bleibt, holt sie sich als Opernstar und Dame der Gesellschaft. Sie gibt Partys, entdeckt in sich das hellseherische Erbe ihrer indigenen Großmutter und veranstaltet spiritistische Séancen oder sagt ihren Kollegen die Lotto-Zahlen voraus, nimmt sich der Sorgen ihrer Freunde an und lebt das Leben einer Diva.
"Die Vera, die wusste natürlich auch um ihre Originalität in den verschiedenen Partien und sie wollte schon auch dann entsprechend geachtet und behandelt werden", erinnert sich ihr Bühnenkollege Klaus Lang.
"Nicht, dass sie das unangenehm ausgespielt hätte, überhaupt nicht, eher lustig, aber alles mit Grenzen."
Vera Littles Repertoire umfasst inzwischen mehr als 40 Mezzo-Partien. Sie singt mit Birgit Nilsson und Placido Domingo. An der Scala und bei den Salzburger Festspielen. Wirkt bei Aufnahmen mit Sir Georg Solti mit. Eine ihrer bekanntesten Rollen – La Cieca, die blinde Mutter der Gioconda in der gleichnamigen Oper.
Von der Opernsängerin zur Schriftstellerin
Doch singen alleine reicht Vera Little inzwischen nicht mehr. Sie wird Autorin. Ende der Siebziger erscheint in einem New Yorker Verlag ihr erster Band "Tears in my Eyes". Gedichte und Erzählungen, das meiste autobiografisch. Emotionale Texte einer detailverliebten Beobachterin und moralisierende Zeilen einer Tochter aus einer Predigerfamilie.
"Ich liebe das Unerklärliche des Warums. Das viele Unverständliche. Das Unglaubliche. Das Mysteriöse, Fragende. Unvermeidliche unseres Lebens."
Die neue Leidenschaft kommt zur richtigen Zeit, denn an der Deutschen Oper ist Vera Little immer seltener zu sehen und zu hören.
"Die amerikanische Verpflichtung, die wir in den ersten Jahren hatten, die schwand ein wenig dahin. Und dann, die Rollen der Little wurden einfach weniger, es gab nicht mehr so viel Rollen für sie, sie war vielleicht auch zu alt, man weiß es nicht so."
Vor dem Publikum wahrt sie den Schein
Inzwischen lebt Vera Little am Lietzensee. Die Menschen in Charlottenburg sind Protagonisten ihrer Erzählungen.
"Vom Park aus konnte man das Postamt sehen, wo sich Träume teilweise erfüllen, in Briefen empfangen und verschickt. Welch ein Glück. Auf diese Weise tat es nicht sonderlich weh, und die Wahrheit kam nicht sofort zutage, jeder konnte drei bis 30 Tage lang weiter träumen und die Lügen oder Märchen, welche auch immer in den Briefen erzählt wurden, leben. Warum auch nicht?"
Vera Littles Texte sind oft Versuche, persönliche Erlebnisse zu verarbeiten. Da hinein packt sie all das, was sie als Diva nicht ausspricht. Vor Publikum wahrt sie den Schein. Wie in diesem RIAS-Interview:
"Ich bin einfach glücklich in dieser Stadt, Ich frage mich, ob ich verrückt bin, dass ich so leicht zufriedenzustellen bin."
"Aber man spürt durchaus Irritationen, in den Texten kommt auch das Wissen um dieses andere, also dieses Nichtverstandenwerden, um Kränkungen, um Einsamkeit."
"Das habe ich auch, aber das ist… normalerweise in Zweisamkeit kommt diese Schwichtigkeit, aber alles muss weitergehen, nicht wahr."
"Aber man spürt durchaus Irritationen, in den Texten kommt auch das Wissen um dieses andere, also dieses Nichtverstandenwerden, um Kränkungen, um Einsamkeit."
"Das habe ich auch, aber das ist… normalerweise in Zweisamkeit kommt diese Schwichtigkeit, aber alles muss weitergehen, nicht wahr."
Wer mehr über sie erfahren will, muss ihre Bücher lesen. Vier hat Vera Little veröffentlicht. Auf Englisch mit deutscher Übersetzung. Den letzten Gedichtband, "Wonderous Encounters", "Wunderbare Begegnungen", mit 75. Darin finden sich diese Zeilen:
"Was willst du hier, ohne Heimat und Angehörigen? Klopfst an fremde Türen und bittest um Einlass. Wie lange bist du schon auf Abwegen?"
"Ich denke, dass ein Künstler wie Vera Little sich auch einsam fühlte und sich anders fühlte", sagt Geerd Heinsen, Opernkritiker.
"Es ist diese Grundsituation bei ihr gewesen, dass sie als Amerikanerin, als Schwarze, die aus relativ kleinen Verhältnissen es dann doch zu einigem Weltruhm gebracht hat, aber jemand, der, das ist ein bekanntes Phänomen, mit seiner jetzigen Gegenwartsposition umgehen musste und das macht einen anders. Das Bewusstsein, dass man wer anders ist in einer Gesellschaft, die einen vielleicht mag und will und annimmt, dennoch fühlt man sich fremd. Und dieses Fremdsein ist sicherlich auch ein Grund, dass jemand sich einsam fühlt. Künstler sind sehr oft sehr einsam, weil sie eben erstens allein auf der Bühne stehen, zweitens sich dauernd um die Stimme sorgen müssen, das ist nicht einfach und damit kann auch nicht jeder umgehen."
Heinz Strasiewsky, der lange als Statist an der Deutschen Oper tätig war, trifft Vera Little noch oft auf der Straße.
"Sie war eine auffallende Erscheinung. Sie trug einen weißen Pelzmantel mit einem großen weißen Hut, dann ihre dunkle Gesichtsfarbe und dann einen kleinen weißen Hund an der Leine. Wer sie kannte, grüßte sie."
Eine Diva bis zuletzt
Irgendwann, da lebt Vera Little schon in einer Seniorenresidenz, kommt es zwischen ihm, dem Statisten, und Vera Little, der Opernsängerin, zu einem Treffen bei Kaffee und Kuchen. Die Sängerin, inzwischen über 80, trägt einen Pelzmantel und Barett mit Leopardenmuster. Eine Diva. Heinz Strasiewsky bewahrt immer noch Fotos von ihr auf - und eine Postkarte.
"Dear Heinz, ich war sehr glücklich zu hören von Ihnen. I would be pleased to see you, euch, dich wiederzusehen."
Es wird nicht mehr dazu kommen. Am 24. Oktober 2012 stirbt Vera Little in Berlin. Es heißt, sie sei in ihren letzten Tagen ziemlich allein gewesen. Ein Ende ohne viel Aufhebens. Das ist ihr vielleicht sogar ganz recht gewesen. Denn Abschiede mag Vera Little nicht. Selbst bei ihrer letzten Vorstellung am 30. Juni 1989 will sie kein Brimborium. Öffentlich "Auf Wiedersehen" sagt Vera Little dann in der Radiosendung "Opernstammtisch" im RIAS. Und liest ein Gedicht vor:
"Sind jetzt die Tage, Monate und Jahre kürzer? Früher träume ich, waren sie länger. Aber nein, sie waren es wahrscheinlich nicht. Oder? Aber eins weiß ich jetzt. Meine Zeit, sie kommt bestimmt. Aber doch jetzt noch nicht, oder?"
Der Zufall wollte es, dass Vera Littles letzter Auftritt an der Deutschen Oper genau auf der Bühne stattfand, wo ihre Karriere einst begann – im Gebäude des Theaters des Westens. Dort, wo sie vor 30 Jahren zum ersten Mal vor Berliner Publikum stand. Als erste schwarze Carmen.