Sängerinnen in Likör-Laune

Von Hartwig Tegeler |
Vor 13 Jahren saßen in einer Küche im Hamburger Stadtteil Barmbek zehn Frauen zusammen und beschlossen, zu singen. Inzwischen ist die Zahl der Mitglieder auf 40 angewachsen. Bekannte Melodien, Sangesfreude und geballte Frauenpower sind offenbar anziehend.
Christian Willner: "Musizieren tut man, um sich zu befreien."

Der Chorleiter geht sofort auf den grundsätzlichsten aller grundsätzlichen Punkte beim Singen. Bei der Musik. Beim Chorischen.

"Das ist Freiheit, das ist Glück. Sonst braucht man keine Musik zu machen."

Der Probensaal in der Obdachlosen-Tagesstätte 'Mahlzeit' füllt in Hamburg-Altona sich langsam.

"Im Orchester wäre ich schon am Pult, hier sage ich, okay, gut, fünf Minuten mehr oder weniger."

Der Chorleiter richtet am Flügel auf der Empore seine Noten aus. Der Herbst hat begonnen; einige der Chor-Damen sind verschnupft. So werden nur 25 von rund 40 Sängerinnen vom Damenlikörchor bei der dreistündigen Probe heute dabei sein.

"Am Anfang so etwas Bekanntes. Wir haben ein Medley aus Chicago, da ist ein deutscher Text drauf über die Frauen, die über die Reeperbahn gehen. Die deutschen Texte machen wir hier selbst. Aus dem Chor kommen die."

Die Frauen, die vor 13 Jahren aus einer Schnaps-, nein, man muss wohl sagen, aus einer "Likör"-Laune heraus den Damenlikörchor gründeten, heuerten ein paar Jahre später als Chorleiter ein Multitalent an: Christian Willner, freischaffender Musiker, Arrangeur und Comedian, neun Jahre lang leitete er den Hamburger Lotsenchor …

"Ich arbeite da graduell auch nicht anders."

… dann musikalischer Leiter des St. Pauli Kulturorchesters, außerdem ein Teil des Comedy-Duos Emmi & Herr Willnowski. Wobei man als Chorleiter, Dirigent und - mit Verlaub - Dompteur einer singenden, energiegeladenen Frauentruppe den "Comedian"-Part der Profession, meint Christian Willner, gut gebrauchen kann:

"Einerseits muss man musikalisch arbeiten wie jeder, aber wenn man doch einen Scherz einstreut, ist das dann …"

… hilfreich, wollte er sagen, doch Moment …

"Jetzt hat jemand Geburtstag aus dem Chor!"

So singt der Chor vor dem Einsingen zweistimmig.

"Also, so wird man hier begrüßt, wenn man hier Geburtstag hat. Also sehr familiär bei uns. So, ich muss jetzt anfangen."

Die Probe vom Damenlikörchor beginnt heute mit einer tiefen Verbeugung vor einem nicht stattgefundenen Sommer 2011.

Fertig gesungen, und dann ist er da wieder, der Sound der riesigen Tiefkühltruhe in der Ecke des Raums. Treuer wie kritischer Begleiter jeder Damenlikörchor-Probe:

"Bei bestimmten falschen Tönen springt dieser Gefrierschrank an. Ist er bei einer Probe schon mal nicht angesprungen. Jemand hat ihn mal ausgemacht und vergessen, wieder anzuschalten. Da was das ganze ... Also, war jedenfalls alles Fleisch verdorben, und wir sind fast aus dem Laden rausgeflogen."

Wobei man natürlich bei der Grundfrage wäre, jenseits von Geburtstagen oder brummenden Truhen: Gibt es beim Chorsingen "Mühen der Ebenen"? Nö! Im Gegenteil, meint Geburtstagskind Heike, 52 Jahre alt, Stimmlage Sopran, Heike, die schon damals vor 13 Jahren, in der Küche zusammen mit sechs anderen der Generation "Urgestein" über die öden Samstagnachmittage schimpfte und so das Singen begann. Sollen die Männer doch Fußball spielen oder Autos waschen: Wir singen! Ach ja, das "chorische Singen":

"Ja, das spart wahrscheinlich die eine oder andere Therapiestunde."

Und Mitsängerin Gudrun - 53, ebenfalls Sopran - stimmt rückhaltlos zu, auch, wenn's wie ein Klischee klingt:

"[Heike:] Singen macht glücklich, macht schon allein glücklich. - [Gudrun:] Ich schätze mal, dass im Gehirn wirklich was passiert. - [Heike:] Aber, ich glaube, was uns damals getrieben hat, ist, dass sich das potenziert. - [Gudrun:] Irgendwelche Synapsen werden wahrscheinlich animiert. - [Heike:] Also, das macht noch glücklicher, wenn man zusammen singt! [Christian Willner:] Das sind ja die Momente, wo man sagt, dafür habe ich es getan. - [Heike:] Man kann es in Worten kaum fassen, aber verliert sich in dem Klang. Wenn alle das gleichzeitig empfinden, das ist das Besondere."

Gut, wobei sich dies sich nicht nur auf "erhabenes" Musikwerk wie das "Halleluja" aus dem Messias von Händel bezieht! Damenlikörchor-Dame Gudrun:

"So, dass wir das transportieren können das Gefühl, was ein anderer beim 'Halleluja' hat, in ein primitives, billiges Pop-Liedchen, dass wir das genauso reinbringen, weil dann kommt das auch so rüber."

Der Chor bestreitet inzwischen - semiprofessionell, muss man wohl sagen - an die zehn bis 15 Konzerte im Jahr im Hamburger Umland, singt mit dem St. Pauli- oder dem Barmbek-Medley, der Ode an die linke Brust oder mit Raus auf's Land bei Chorwettbewerben und trat auch schon einmal in der WDR-Ladies-Night auf. Aber was macht denn die Power dieses Chores aus? Chorleiter Christian Willner:

"Einen gleichen Impuls zu setzen mit mehreren Leuten zur gleichen Zeit."

Wobei zu dieser Erklärung fundamental noch fehlt der Aspekt der ...

"… Synchronizität. Das ist natürlich auch wichtig, dass jeder im Chor weiß, was er zu tun hat in dem Moment. Synchronizität … das hat ja eine unglaubliche Kraft."


Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.