Sag mir, wo Du stehst
Je verwickelter und komplizierter die uns beherrschenden Kräfte – Technik, Wirtschaft, Politik – werden, je deutlicher der Einzelne erkennen muss, dass er auf den Lauf der Dinge gar keinen Einfluss hat, also je ohnmächtiger der Mensch dem Weltgeschehen gegenübersteht, desto größer wird sein Wunsch nach moralischen Gewissheiten.
Denn es ist ein schönes Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Und die richtige Seite ist dort, wo bestimmte Meinungen und Behauptungen nicht mehr in Frage gestellt werden, weil sie für selbstverständlich gelten. An die Stelle sachlicher Urteilskraft tritt das Bekenntnis.
Wo ein Feind klar und einfach definiert ist, wird der Kampf gegen ihn zur moralischen Pflicht: Kapitalismus, Klimawandel, Krieg, Rassismus, Atomenergie. Je weniger eine Gesellschaft moralisch in sich gefestigt ist, weil ihr die innere Gelassenheit oder ein tradiertes Selbstbewusstsein fehlt, desto stärker wird sie von der Furcht beherrscht, sich moralisch falsch zu verhalten.
Nirgendwo, nicht einmal in Japan, hat das Debakel von Fukushima solche Hysterien ausgelöst wie in Deutschland. Lange vor der Katastrophe, im September 2010, hatten bereits Hunderttausende in Berlin demonstriert, wie bei einer Love-Parade mit bunten Kostümen und dröhnenden Bässen, gegen den so schwer zu fassenden, janusköpfigen Dämon moderner Energiegewinnung. Doch ist es wirklich die Angst vor der Atomkraft, welche die Menschen auf die Straße treibt?
In den 1990er Jahren probten Tausende, in Lichterketten vereint, den ‚Aufstand der Anständigen’. Als Anlass genügte oft ein Gerücht, um die Massen gegen das ausgemachte ‚Böse’ zu mobilisieren. Der Event-, Party-, aber auch Ersatzreligions-Charakter all dieser Prozessionen, wie er auch beim Protest gegen "Stuttgart 21" erkennbar wurde, ist unübersehbar; der soziale, also der Nestwärme stiftende Aspekt ist psychologisch gewiss bedeutender als der politische: endlich wieder das Gefühl haben, etwas Sinnvolles zu tun und zu den vermeintlich ‚Guten’ zu zählen; endlich nicht mehr selber denken zu müssen, sondern wieder der Schwarmintelligenz vertrauen zu dürfen. "Ich möchte mich auf Euch verlassen können. Lärmend mit Euch durch die Straßen rennen."’
Denken verunsichert da nur, denn es könnte zeigen, dass die Dinge nicht so einfach sind, wie die Sehnsucht nach dem ‚guten Gewissen’ suggeriert. Und Hysterie turnt viele an, man schüttet Adrenalin aus und steigert dadurch das Ego. Hieraus erklärt sich auch, warum der immer gleiche Typus radikaler Zeitgeistpapageien, je nach Vorgabe, mal ‚Juden raus’, mal ‚Nazis raus’ brüllt. Denn das Bedürfnis nach Totalität und Zugehörigkeit zum ‚Richtigen’ ist ja nicht aus der Welt. Wohin sollte es auch so plötzlich verschwunden sein? Es sucht sich nur jeweils neue Kanalisationsformen. ‚Sag mir, wo du stehst?’ fragte einst singend die FDJ. Immer dort, wo mich die Welle der mächtigsten Tendenz-Emotion hinspült.
Das ‚gute Gewissen’ ist inzwischen zu einem begehrten Label geworden, das wohl niemand so geschickt zu vermarkten versteht, wie die ‚Partei des guten Gewissens’, die Grünen. Denn es entspricht der heutigen Konsum-Mentalität, immer alles sofort haben zu wollen, und zwar möglichst zum Schnäppchenpreis: Abenteuer, Erfolg, Ruhm, das neueste technische Gadget oder den Atomausstieg. Deshalb ist es so schick, mit dem System gegen das System zu sein. Denn bequemer und gefahrloser kann man den hippen Helden in der Sicherheitszivilisation nicht spielen.
Im 20. Jahrhundert versprach der Sozialismus seinen Anhängern ein ‚gutes Gewissen’, indem er ihnen die Freiheit nahm, sich moralisch ‚falsch’ zu entscheiden; im 21. Jahrhundert dürfte der politisch korrekte Ökologismus diese Rolle übernehmen.
Frank Lisson, philosophischer Schriftsteller, Jahrgang 1970, Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Würzburg und München, schreibt Romane, Features, Hörspiele und Sachbücher mit dem Schwerpunkt Kulturphilosophie. Letzte Veröffentlichung: "Homo absolutus. Nach den Kulturen". Im Herbst 2011 erscheint "Die Verachtung des Eigenen. Ursachen und Verlauf des kulturellen Selbsthasses in Europa".
Wo ein Feind klar und einfach definiert ist, wird der Kampf gegen ihn zur moralischen Pflicht: Kapitalismus, Klimawandel, Krieg, Rassismus, Atomenergie. Je weniger eine Gesellschaft moralisch in sich gefestigt ist, weil ihr die innere Gelassenheit oder ein tradiertes Selbstbewusstsein fehlt, desto stärker wird sie von der Furcht beherrscht, sich moralisch falsch zu verhalten.
Nirgendwo, nicht einmal in Japan, hat das Debakel von Fukushima solche Hysterien ausgelöst wie in Deutschland. Lange vor der Katastrophe, im September 2010, hatten bereits Hunderttausende in Berlin demonstriert, wie bei einer Love-Parade mit bunten Kostümen und dröhnenden Bässen, gegen den so schwer zu fassenden, janusköpfigen Dämon moderner Energiegewinnung. Doch ist es wirklich die Angst vor der Atomkraft, welche die Menschen auf die Straße treibt?
In den 1990er Jahren probten Tausende, in Lichterketten vereint, den ‚Aufstand der Anständigen’. Als Anlass genügte oft ein Gerücht, um die Massen gegen das ausgemachte ‚Böse’ zu mobilisieren. Der Event-, Party-, aber auch Ersatzreligions-Charakter all dieser Prozessionen, wie er auch beim Protest gegen "Stuttgart 21" erkennbar wurde, ist unübersehbar; der soziale, also der Nestwärme stiftende Aspekt ist psychologisch gewiss bedeutender als der politische: endlich wieder das Gefühl haben, etwas Sinnvolles zu tun und zu den vermeintlich ‚Guten’ zu zählen; endlich nicht mehr selber denken zu müssen, sondern wieder der Schwarmintelligenz vertrauen zu dürfen. "Ich möchte mich auf Euch verlassen können. Lärmend mit Euch durch die Straßen rennen."’
Denken verunsichert da nur, denn es könnte zeigen, dass die Dinge nicht so einfach sind, wie die Sehnsucht nach dem ‚guten Gewissen’ suggeriert. Und Hysterie turnt viele an, man schüttet Adrenalin aus und steigert dadurch das Ego. Hieraus erklärt sich auch, warum der immer gleiche Typus radikaler Zeitgeistpapageien, je nach Vorgabe, mal ‚Juden raus’, mal ‚Nazis raus’ brüllt. Denn das Bedürfnis nach Totalität und Zugehörigkeit zum ‚Richtigen’ ist ja nicht aus der Welt. Wohin sollte es auch so plötzlich verschwunden sein? Es sucht sich nur jeweils neue Kanalisationsformen. ‚Sag mir, wo du stehst?’ fragte einst singend die FDJ. Immer dort, wo mich die Welle der mächtigsten Tendenz-Emotion hinspült.
Das ‚gute Gewissen’ ist inzwischen zu einem begehrten Label geworden, das wohl niemand so geschickt zu vermarkten versteht, wie die ‚Partei des guten Gewissens’, die Grünen. Denn es entspricht der heutigen Konsum-Mentalität, immer alles sofort haben zu wollen, und zwar möglichst zum Schnäppchenpreis: Abenteuer, Erfolg, Ruhm, das neueste technische Gadget oder den Atomausstieg. Deshalb ist es so schick, mit dem System gegen das System zu sein. Denn bequemer und gefahrloser kann man den hippen Helden in der Sicherheitszivilisation nicht spielen.
Im 20. Jahrhundert versprach der Sozialismus seinen Anhängern ein ‚gutes Gewissen’, indem er ihnen die Freiheit nahm, sich moralisch ‚falsch’ zu entscheiden; im 21. Jahrhundert dürfte der politisch korrekte Ökologismus diese Rolle übernehmen.
Frank Lisson, philosophischer Schriftsteller, Jahrgang 1970, Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Würzburg und München, schreibt Romane, Features, Hörspiele und Sachbücher mit dem Schwerpunkt Kulturphilosophie. Letzte Veröffentlichung: "Homo absolutus. Nach den Kulturen". Im Herbst 2011 erscheint "Die Verachtung des Eigenen. Ursachen und Verlauf des kulturellen Selbsthasses in Europa".