"Prävention muss schon in der Schule anfangen!"
Zu dem Thema haben wir auch mit Susanne Schröter, Islamwissenschaftlerin vom Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam, gesprochen. Susanne Schröter sagte im Deutschlandfunk Kultur, Prävention werde immer schwieriger. Sinnvolle Prävention müsse deshalb schon in der Schule anfangen. "Man muss die Demokratiefähigkeit der Schüler bestärken, dass sie es nicht nötig haben, sich solchen Gruppen anzuschließen."
Das geschlossene Weltbild der Salafisten sei für viele orientierungslose Jugendliche ein Weg aus der Verzweiflung: "Es reicht, wenn man sich als Teil dieser eingeschworenen Gemeinschaft empfindet, da findet man Freude und eine Familie."
Eine weitere Erkenntnis, die die Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter aus vielen Gesprächen mit Jugendlichen gezogen hat: "Sie glauben, wenn wir uns an alles halten, werden wir irgendwann die Gewinner sein, das ist eine Art Gehirnwäsche." Es sei deshalb wichtig, eine bundesweite Präventionsarbeit zu initiieren. "Momentan herrscht ein großes Durcheinander."
Frauen halten die Szene zusammen
Die Rolle von Frauen in der Salafisten-Szene wurde lange unterschätzt. Recherchen von Joseph Röhmel zeigen, dass sie eine sehr aktive Rolle in dem extremistischen Milieu spielen, Propaganda im Netz betreiben und neue Anhänger anwerben.
In letzter Zeit gehen deutsche Sicherheitsbehörden massiv gegen die salafistische Szene vor. Es gab eine Reihe von Festnahmen. Auch die Koranverteilungsaktion "Lies!" wurde verboten. Sie galt als wichtiger Anlaufpunkt junger Menschen, die später zum Kämpfen in den Terror nach Syrien gereist sind. Die Folge: Die Salafisten-Szene verschwindet immer mehr von den Straßen und verlagert ihre Arbeit in geschlossene Räume. Wichtig ist dabei vor allem das Internet. Eine Form ist die sogenannte salafistische Gefangenenhilfe: Salafisten, die sich für sogenannte Glaubensbrüder und Glaubensschwestern in Haft einsetzen und Spenden für Angehörige sammeln. Bei der Recherche stiße unser Autor Joseph Röhmel auf ein deutschlandweites Netzwerk, das vor allem in Nordrhein-Westfalen aktiv ist.
Gefangenenhilfe als Scharnier
"Dieser Gedanke der Umma, also der muslimischen islamischen Gemeinschaft, ist so stark geworden, dass so eine Gefangenenhilfe sowas wie eine Vernetzung oder eine Scharnierfunktion ist", sagt der Präsident des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, Burkhard Freier.
Wichtiges Instrument dieser Gefangenenhelfer sind soziale Netzwerke. Mal mit einer Handvoll Anhänger, manchmal sind es aber auch Tausende. Die Botschaften ähneln sich. Es geht um den Kampf gegen die Ungläubigen in einem muslimfeindlichen System. Da heißt es: "Eine hinterbliebene Ehefrau, die weiterhin stark sein muss. Zwei kleine Kinder, die weiter auf ihren Vater warten, die Augen tränen." oder "Wir haben gerade erfahren, dass unsere Schwester verhaftet worden ist. Ihr Sohn wurde ihr weggenommen."
Spenden sammeln
Gekämpft wird für Salafisten in Haft und deren Angehörige. Die Gefangenenhelfer bitten um Spenden. Gedacht ist das Geld für Häftlinge selbst, aber auch um Anwälte zu bezahlen. Eine beliebte Plattform mit tausenden "Gefällt-mir-Angaben" auf Facebook heißt "Al Asraa" zu deutsch "die Gefangenen". Dazu Freier: "Sie versteigern im Internet Gebrauchsgegenstände. Sie deklarieren das so, dass die Erlöse der Gefangenenhilfe dienen. Das ist dann nicht viel Geld, aber manchmal ist es auch so, dass es richtige finanzielle Unterstützung ist."
Es komme weiter hinzu, dass auch die Familien so unterstützt würden. "Die Familien sollen von staatlichen Behörden fern gehalten werden, damit aus Sicht der Salafisten nicht die Gefahr besteht, dass sie ihre Ideologie verlieren. Es geht darum, sie in der Szene zu halten. Dazu gehört Geld, dazu gehören Briefe, dazu gehören Anrufe und dazu gehören auch Besuche."
Einsatz von Kindern
Nordrhein-Westfalen zählt landesweit rund 3000 Salafisten. Vermehrt registrieren die dortigen Sicherheitsbehörden, dass insbesondere Frauen wichtige Rollen übernehmen, weil wichtige männliche Protagonisten der Szene in Syrien getötet wurden oder in Deutschland in Haft sitzen. Frauen verbreiten salafistische Propaganda im Netz, rekrutieren neue Anhänger und betreiben auch salafistische Gefangenenhilfe. 550 aktive Frauen seien es aktuell in NRW, sagt Freier.
Manche dieser Frauen schrecken nicht davor zurück, als Anreiz für Spendenaktionen Kinder vor die Kamera zu stellen: "Salam aleikum, meine lieben Brüder und Schwestern im Islam." Das Kind, das hier grüßt, ist ungefähr zwölf Jahre alt. Es hält einen Schlüsselanhänger, Flyer und ein Bild in die Kamera. Gekennzeichnet sind die Gegenstände mit Logos von Gefangenenhelfer-Plattformen. Für Freier ist der Fall klar: Die Kinder werden zu Propaganda-Zwecken missbraucht. Er sagt: "Frauen erklären dann Kindern zum Beispiel, warum der Vater oder der Onkel oder der Bekannte in Haft sind. Indem sie sagen, das sind die Ungläubigen, der ist da drin. Und der ist auf Allahs Weg, aber die Ungläubigen haben ihn inhaftiert." Dann malten die Kinder Bilder im Auftrag der Mütter und schickten diese ins Gefängnis. "Für die, die da in Haft sitzen, hat das eine große Bedeutung, weil sie das Gefühl haben, die Familie, und auch die Kinder stehen hinter mir. Und das darf man nicht unterschätzen, wenn das so auf einer Gefühlsebene passiert."
Die Arabistin Claudia Dantschke beobachtet nicht erst jetzt, sondern schon seit Jahren, dass Frauen eine bedeutende Rolle in der Salafisten-Szene einnehmen. Sie berichtet darüber auf einer Veranstaltung in Düsseldorf Anfang November. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat geladen unter dem Titel: "Kind, Kegel, Kalifat. Frauen und Kinder: Blinde Flecken in der Salafismus-Prävention?" Dantschke beschreibt die Rolle der Frauen so: "Frauen sind wichtig, sich um die Familie zu kümmern - um die inhaftierten Frauen, aber auch um die inhaftierten Männer. Durch organisieren von Briefen, die geschrieben werden. So hält man halt im Gefängnis die Szene beisammen. Und wichtig ist eben auch das Kümmern um die Familien draußen."
IS-Rückkehrerinnen
Dantschke kümmert sich für die Berliner Beratungsstelle Hayat um radikalisierte junge Männer und Frauen. Bei Gefangenenhilfe denkt sie an die inzwischen geschlossene Initiative "Free our sisters", die lange beliebt war und ehr als 2000 Gefällt-mir-Angaben auf Facebook hatte. Insbesondere Frauen waren dort aktiv. Mit Kinderzeichnungen, Verlosungsaktionen und dem Verkauf von Bastelpüppchen sammelten sie Geld und moralische Unterstützung für die Familien der Gefangenen. "Free our sisters" war ein Beispiel für die Vernetzung – nicht nur innerhalb Nordrhein-Westfalens, sondern in ganz Deutschland. Zu den Protagonistinnen gehörte auch eine Frau aus Niedersachsen. "Eine wichtige Admina war beim IS", sagt Dantschke. Sie sei fast zwei Jahre in diesem Netzwerk aktiv gewesen. "Also die ist zurückgekommen und sofort in das Netzwerk rein. Und die hat man jetzt festgenommen."
Die Frau war schon 2016 nach Deutschland zurückgekehrt, wurde aber erst im Juli 2018 in Bayern auf der Durchreise verhaftet. Nach Worten der Bundesanwaltschaft ist sie dringend verdächtig, sich als Mitglied an der ausländischen terroristischen Vereinigung "Islamischer Staat" beteiligt zu haben. Ihr Anwalt sagt, er wisse nicht, ob sie für "Free our sisters" tätig gewesen sei. Nach Informationen von Deutschlandfunk Kultur hatte sie aber durchaus Bezüge zu dieser Gefangenenhilfsorganisation. Im Oktober verkündete "Free our sisters" auf Facebook die Schließung mit folgenden Worten: "Ich vermisse diese "Arbeit" wirklich sehr, musste sie jedoch von einem auf den anderen Tag schweren Herzens beenden. Mein Anwalt sagt, ich soll den Mund halten."
Wechsel der Plattformen
Der Druck der Sicherheitsbehörden war offensichtlich zu groß. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat registriert, dass durch die Einstellung des Projekts weniger Spenden- und Unterstützungsaufrufe getätigt werden. Inzwischen hat die Szene ihre Arbeit auf andere Netzwerke verlagert. Die Betreiber von "Free our sisters" verweisen in ihrem Abschiedspost auf die beliebte Plattform "Al Asraa" und auf Einzelpersonen: "Ich bitte euch nun den Falk zu unterstützen. Er setzt sich wirklich ein für Gefangene aller Art."
Gemeint ist Gefangenenhelfer Bernhard Falk, ein ehemaliger Linksterrorist, der zwölfeinhalb Jahre im Gefängnis verbracht hat – wegen Mordversuchs und Beteiligung an mehreren Sprengstoffanschlägen. Schon vor seiner Verhaftung konvertierte Falk zum Islam. Wir treffen den Mann mit dem rauschigen Vollbart in einem Café in Köln. Falk reist durch ganz Deutschland und besucht Gerichtsverhandlungen. Regelmäßig berichtet er auf Facebook von seinen Besuchen vor Gericht: "Wenn sie zuverlässig arbeiten, dann gewinnen sie Vertrauen."
Gefangenenliste
Falk sagt, dass er es immer gut findet, wenn sich auch andere so wie er in der Gefangenenhilfe engagieren. Sich selbst bezeichnet er als Einzelkämpfer. Falk weiß häufig, wo Häftlinge sitzen. Er führt eine Liste, die er stets aktualisiert und veröffentlicht. Falk vermittelt gern, wenn Glaubensgeschwister Gefangenenhilfe leisten wollen: "Es fragen dann zum Beispiel Schwestern an, wer inhaftiert ist", erzählt er." Die schicken dann Post, der Gefangene oder die Gefangene antworten. Da entstehen dann Kontakte. So kann man das ein bisschen anstoßen, dass der Gefangene nicht so isoliert ist."
Der ehemalige Linksextremist sei inzwischen wichtig für die Szene, sagt Freier vom Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen. Er sympathisiere offen mit der Terrororganisation al-Quaida: "Bernhard Falk hatte am Anfang in der Szene nicht so eine Rolle gespielt. Er wurde auch nicht wirklich ernst genommen, weil seine Art zu reden, das war so ein bisschen linksextremistischer Kampf. Er hat aber weitergemacht und ein Netzwerk gebildet. Und er hat sich tatsächlich auch gekümmert um Inhaftierte."
Einsatz von Anwälten
Und so ist Falk ein zunehmend wichtiger Ansprechpartner – auch für Frauen, bestätigt Dantschke von der Beratungsstelle Hayat: "Falk hat den Zugang in die Gefängnisse. Er kümmert sich auch um die Frauen. Er hat den Frauen, die derzeit in Untersuchungshaft sitzen, Anwälte besorgt." Es sind Verteidiger, die sich in Teilen selbst als Szeneanwälte bezeichnen. Bernhard Falk wird von Verfassungsschützern vorgeworfen, er versuche durch Briefe und Vermittlung solcher Anwälte Männer und Frauen in der Szene zu halten. Für Falk ist das alles "Staatsschutzpropaganda". Er sagt, er wolle moralische Unterstützung leisten. Vor allem Frauen möchte er besonders schützen – wie eine Muschel die Perle, sagt er. Frauen, die aus Syrien zurückkehren, haben aus Falks Sicht nicht mehr gemacht als Kinderhüten und den Haushalt. Und deshalb hat er kein Verständnis, wenn diese Frauen verhaftet werden: "Sozusagen an die Perlen des Islam ranzugehen, ist schon eine ziemliche Provokation", sagt er. "Hinzu kommt, dass diejenigen, die da in Untersuchungshaft sitzen, in keiner Weise selbst gekämpft haben sollen."
Kochen und backen
Manch eine Rückkehrerin in Haft teilt Falks Sichtweise. Dantschke von der Beratungsstelle Hayat hat da schon ihre Erfahrungen gemacht: "Eine kennen wir. Der haben wir eine Beratungsstelle empfohlen. Und da hat sie gemeint, da steht auf der Homepage, da geht es um religiös begründeten Extremismus, da habe ich doch nichts mit zu tun. Das sagt sehr viel von Uneinsichtigkeit. Sie hat sich so hingestellt, sie habe dort nur gekocht oder gebacken. Da ist diese Selbstverleugnung ganz groß. Da bin ich auch skeptisch, ob sie jemals zu dieser Einsicht kommt."
Ganz die Hoffnung aufgegeben hat Dantschke aber noch nicht. Eventuell wird die Frau angeklagt, es kommt zu einem Gerichtsverfahren und einem Urteil. Dann kommt sie vielleicht zur Besinnung. Und es ist möglicherweise einfacher in Kontakt zu treten. Der Fall zeigt aber: Salafistische Ideologie wirkt bis in die Haftanstalten - für einen Szeneausstieg ein ziemlich großes Hindernis.