Salman Rushdie: "Sprachen der Wahrheit. Texte 2003–2020"
Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Herting und Bernhard Robben
C. Bertelsmann, Gütersloh 2021
480 Seiten, 26 Euro
"Die Welt ist so absurd geworden"
15:31 Minuten
Das neue Buch von Salman Rushdie, "Sprachen der Wahrheit", enthält Essays aus der Zeit seit 2003. Im Interview erklärt der Schriftsteller, warum es für ihn "lebensnotwendig" war, gegen die Lügen von Trump Einspruch zu erheben.
Joachim Scholl: Seine Romane zählen längst zur Weltliteratur, er selbst ist zur Ikone des freien Wortes geworden, nachdem er jahrelang wegen seiner Literatur mit dem Tod bedroht wurde und schwer bewacht im Untergrund leben musste: Salman Rushdie.
Inzwischen wohnt der britische Autor indischer Abstammung in New York City, ohne Leibwächter, und wir haben ihn dort digital getroffen, um uns von seinem neuesten Buch erzählen zu lassen, das es jetzt auch auf Deutsch gibt. Es sind Essays zu Literatur und Politik unter dem Titel "Sprachen der Wahrheit", gesammelte Texte aus den letzten 20 Jahren.
Gerade als Sie bei den Schlusskorrekturen dieses Bandes saßen, im März 2020, bekamen Sie Fieber und Husten, Diagnose: Corona. Und Sie schreiben trocken: "Na toll, ich mit 71 und meinem Asthma, der perfekte Kandidat." Wie haben Sie es überstanden?
Salman Rushdie: Ich glaube, ich habe einfach Glück gehabt. Ich bekam diese Krankheit zu Beginn dieser Plage, wie Sie richtig gesagt haben, im März 2020, und ich hatte einfach keine schlimmen Symptome. Glücklicherweise waren meine Atemwege nicht wirklich betroffen, und auch die Blutsauerstoffwerte waren ziemlich gut geblieben, also würde ich sagen, ich bin einfach mit sehr viel Glück davongekommen.
New York im Dornröschenschlaf
Scholl: Sie waren krank in New York, der Stadt, in der Sie leben und die Sie innig lieben, wie Sie oft gesagt haben. Diese brausende Metropole versank durch Corona in einen wahren giftig-fiebrigen Dornröschenschlaf, könnte man sagen. Wie haben Sie das erlebt? Diese Geisterstadt sah ja aus wie in einem düsteren Science-Fiction-Roman.
Rushdie: Das war schon sehr seltsam, was man da so gesehen hat. Als es mir dann wieder besser ging und ich anfing, wieder Spaziergänge zu unternehmen, sah ich Dinge, die ich so nie erwartet hätte. Ich war zum Beispiel in der Grand Central Station, diesem großartigen Bahnhof, der normalerweise vor Menschen nur so wimmelt, und es war dort menschenleer. Dasselbe trifft zu für den Broadway, für Times Square, man sah diese riesigen Straßen plötzlich leer, alles geschlossen, auch geschlossene Geschäfte überall.
Aber New York ist eine sehr widerstandsfähige Stadt, und all die, die gemeint haben, New York wird nie wieder aufwachen aus diesem Dornröschenschlaf, wird sich nie wieder davon erholen, die schauen heute ein bisschen dumm aus der Wäsche, weil New York eben doch diese Möglichkeit hat, sich auch immer wieder aus solchen Krisen herauszubringen.
Heutzutage ist es so, dass die Stadt, aber auch der State of New York zu den Regionen in Amerika gehört, wo das Virus am meisten unter Kontrolle gebracht wurde. Ich würde sagen, New York ist vielleicht nicht wieder 100 Prozent die Stadt, die sie war, aber wahrscheinlich zu 80 Prozent ist New York wieder die alte Stadt.
Scholl: Man weiß, dass Sie keine Lust mehr haben, und wir respektieren das wirklich, über die Fatwa zu reden, die Todesdrohung aus Iran, aber es gab anscheinend Leute, die Sie, den Corona-Kranken, genau damit aufmuntern wollten: "Hey Salman, du kennst dich doch aus mit so einem Lockdown, das schaffst du doch spielend."
Abgesehen von der grotesken Taktlosigkeit solcher Bemerkungen: Während der langen Fatwa-Jahre, da haben Sie unbeirrt umfangreiche, großartige Romane geschrieben, "Des Mauren letzter Seufzer" zum Beispiel, ein Klassiker eigentlich jetzt schon. Und nun, schreiben Sie, fiel Ihnen das Schreiben aber schwer in diesen Corona-Monaten, Sie brachten irgendwie nichts Rechtes zustande. Wie erklären Sie sich das?
Rushdie: Es war einfach das Ausmaß dieser Tragödie, dieser Horror dieser Hunderttausenden von Toten, die mehr so ein Pfeifen in den Ohren bewirkt haben. Ich konnte einfach nicht diesen Frieden finden und diese innere Ruhe, die ich brauche, um schreiben zu können. Es war ein Moment, wo man ein bisschen auf das aufpassen musste, auf das achten musste, was draußen passiert, und nicht so in sich selbst hineinschaut. Wenn ich dann wirklich etwas zu Papier brachte, war es einfach nicht sonderlich gut, und es dauerte in etwa sechs Monate, bevor ich wieder in der Lage war, wirklich zu schreiben.
Trumps Angriff auf die Wahrheit
Scholl: "Languages of Truth – Sprachen der Wahrheit", so heißt Ihr Buch, und es gibt etliche politische Texte darin. Waren es für Sie auch gerade die letzten Jahre in den USA mit einem demokratisch gewählten Präsidenten, der so viel log und die Wahrheit so oft verbog, dass sich die Balken wirklich im Wortsinn bogen, dass Sie diesen Begriff der Wahrheit so ins Zentrum gerückt haben?
Rushdie: Das hing durchaus damit zusammen, das war schon der Grund, warum ich diese Essays auf diese Art und Weise miteinander verknüpft habe und so herausbringen wollte, weil ehrlich gesagt, ich hatte so etwas in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen, so einen Angriff auf die Wahrheit, vor allen Dingen in diesem Ausmaß, in einem demokratischen Land.
Man hatte das Gefühl, dass die Welt umgedreht wurde, vom Kopf auf die Füße gestellt wurde, und dass diejenigen, die die Wahrheit sagten, von denen, die logen, als Dumme bezeichnet wurden.
Das ging eben so weit, dass man Journalisten als "Staatsfeinde" bezeichnete, ein stalinistischer Begriff, und die "Staatsfeinde" wurden so genannt von denen, die offensichtlich logen. Man drehte einfach die Realität um, und ich fragte mich, wie kann man auf diesen Angriff reagieren, und hatte schon das Gefühl, da muss man auch für kämpfen.
Dieser Kampf ist übrigens auch noch nicht vorbei, weil die ganzen Rechtsradikalen ja immer noch diese Lüge propagieren, Donald Trump hätte die Wahlen gewonnen, obwohl er sie eigentlich krachend verloren hat – immerhin mit einem Unterschied von acht Millionen Stimmen –, und dennoch geht eben diese Lüge weiter. Daher halte ich es fast für lebensnotwendig, dass wir den Kampf für diese Wahrheit eben weiterführen, und ich tue das eben in Form eines Buches.
Ein Paralleluniversum voller Skepsis und Paranoia
Scholl: Sie schreiben in dem Zusammenhang auch über die Wirkung des Internets, Sie nennen es ein Paralleluniversum, in dem wichtige Informationen neben absolutem Müll mit scheinbar gleicher Berechtigung nebeneinander stünden. Das ist aber leider auch ein unbestrittener Zustand, der nicht mehr zu ändern ist, oder?
Rushdie: Ja, das stimmt, und es gibt sehr bedrohliche Entwicklungen, die durch das Internet noch verstärkt werden. Vieles im Internet ist sehr hilfreich, aber es gibt eben auch ganz gefährliche Tendenzen, gerade für die Demokratie, wenn es eben darum geht, dass eine Skepsis herrscht, eine Ablehnung aller demokratischen Institutionen, die eben so weit geht, dass eine Form von Paranoia verbreitet wird, zum Beispiel gegen die sogenannten Mainstream-Medien.
Das hat es alles schon vor Trump gegeben, dieses Problem, aber Trump hat es sozusagen wie mit einem Brennglas noch vergrößert, und er hat es für sich und für seine Zwecke benutzt, gerade wenn es um diese Paranoia geht. Es gibt andere bedrohliche Entwicklungen, wie diese Lynchmobs, die entstehen, und das ist alles zusammengesehen schon eine durchaus bedrohliche Entwicklung.
Scholl: Nun gehört es zum kulturell-intellektuellen Standard, die andere Wahrheit der Literatur zu betonen. Ist das aber nicht schwerer geworden, diese Wahrheit zu behaupten, gerad in Zeiten von Fake News? Seit dem alten Platon heißt es, die Dichter lügen ja auch und erst recht. Was wäre denn für Sie die angemessene literarische Sprache der Wahrheit?
Die tiefere Wahrheit der Literatur
Rushdie: Es gibt ja einen Grund dafür, warum der Titel meines Buches im Plural ist. Viele Wege können zur Wahrheit führen. Das kann der Journalismus sein, das kann ein Essay sein, das kann ein Sachbuch sein, aber das kann natürlich auch die Kunst selber sein. Das kann Poesie sein oder auch Musik. Wenn wir uns ein Gemälde von van Gogh anschauen, wie er den Sternenhimmel malt, und dann gehen wir raus und schauen uns die Sterne an, dann ist das natürlich nicht das Gleiche, und trotzdem ist diese Sternennacht, so wie van Gogh sie gemalt hat, schön und in einer gewissen Weise auch wahrhaftig.
Und wenn ich von einer Sprache in der Literatur rede, dann ist die Literatur natürlich so eine Sprache, die versucht, sich der Wahrheit anzunähern, die versucht, das Menschliche zu propagieren oder etwas Wahres über die Menschheit oder den Menschen auszusagen. Es klingt nur auf den ersten Blick so, dass Fiktion und Lüge irgendetwas gemeinsam hätten, aber die Lüge ist ja etwas, was die Wahrheit verdeckt. Insofern ist sie dann letztendlich auch ein Gegner der Fiktion.
Man spürt doch in seinem Herzen, wenn man ein Buch liest, wenn man ein Buch mag, dann denkt man sich doch als Leser: Genauso ist es! Genauso sind die Menschen! Dann hat man doch das Gefühl, so eine tiefere Wahrheit gelesen und gespürt zu haben. Ich denke, das kann Literatur und das muss Literatur auch weiter propagieren, diese Suche nach der Wahrheit.
Inspirierende Freundschaft mit Grass
Scholl: Sie formulierten dazu einen interessanten Hinweis auf die deutsche Literatur, direkt nach 1945, wo Schriftsteller und Schriftstellerinnen nach einer neuen Sprache suchten, mit einer sogenannten Trümmerliteratur. Sehen Sie da eine Parallele zur Gegenwart?
Rushdie: Diese Phase der deutschen Literatur im Nachkriegsdeutschland hat mich durchaus immer sehr beeindruckt, wie Schriftsteller versucht haben, die deutsche Sprache auch wieder neu zu konstruieren nach dieser Beschmutzung in der Nazizeit. Diese Trümmerliteratur ist jetzt vielleicht nicht etwas, was heute wieder in dem Sinne aktuell ist, aber was von ihr ausgegangen ist, ist inspirierend.
Heute geht es ja auch wieder darum, vielleicht neue Formen von Sprache zu finden, die sich dann auch gegen eine gewisse Lügensprache wenden. Ich fand einfach, wie ich mich damals mit dieser Strömung in der deutschen Nachkriegsliteratur befasste, das war auch für mich als Schriftsteller sehr inspirierend, diese Gruppe 47. Und wie Sie vielleicht wissen, war ich mit Günter Grass befreundet, und der hat mich darauf auch aufmerksam gemacht und hat mir dafür auch ein gewisses Verständnis vermittelt. Von daher kann ich nur wiederholen, ich persönlich fand das sehr inspirierend.
Scholl: Ihr Buch ist natürlich auch ein grandioser Zug durch die gesamte Weltliteratur. Es gibt Essays zu Philip Roth, zu Kurt Vonnegut, zu Samuel Beckett und, und, und. Auf einen Essay möchte ich Sie speziell noch ansprechen: "Über Autobiografie und Roman". Das alte Leiden, die ewige verhasste Frage, wie autobiografisch ist Ihr Roman? Nun ist aber gerade in der jüngeren zeitgenössischen Literatur direkt ein neues Genre in diese Richtung entstanden, die Autofiktion – also die Schreibenden machen von vornherein klar, logisch bin ich das, allerdings verfremdet. Was halten Sie denn davon? Sie nennen das spöttisch "die Knausgårderei".
Das Buch soll wichtig sein, nicht der Autor
Rushdie: Es ist ja so, dass viele dieser Schriftsteller, auf die ich mich da so ein bisschen beziehe, herausragende Schriftsteller sind. Karl Ove Knausgård ist ein guter Schriftsteller, das stelle ich gar nicht in Abrede, aber ich persönlich, ich denke einfach nicht so. Für mich hat Fiktion etwas mit Träumen zu tun, etwas mit Vorstellungskraft zu tun und nicht nur mit der Erinnerung, obwohl die Erinnerung natürlich wichtig ist.
Lassen Sie uns doch mal aufs 18. Jahrhundert schauen, was waren denn die populärsten Bücher, zumindest in der englischsprachigen Literatur, im 18. Jahrhundert? Das waren "Gullivers Reisen" von Jonathan Swift oder "Robinson Crusoe" oder eben "Tristram Shandy" von Laurence Sterne.
Aber das Interessante ist, wenn man sich die damaligen Ausgaben anschaut und den Buchtitel, da tauchen die Autoren gar nicht auf, sie werden überhaupt nicht erwähnt, sodass viele Leser wirklich geglaubt haben, Gulliver ist Gulliver und Tristram Shandy ist Tristram Shandy.
Genau das liebe ich eben, wenn das Buch wichtig ist und nicht der Autor. Das ist ein sehr interessanter Aspekt, und darauf wollte ich einfach noch einmal hinweisen. Mir persönlich ist es sympathischer, wenn das Leben und Werk eines Autors getrennt wird und man sich nicht fragt, war jetzt der Autor von "Gullivers Reisen" wirklich in all diesen Ländern, hat er sie alle bereist. Darauf wollte ich einfach noch einmal hinweisen.
Scholl: In Ihrem letzten Roman "Quichotte", da lassen Sie den alten Windmühlenkämpfer Don Quichotte in einen fantastischen Dialog mit der Statue von Hans Christian Andersen im New Yorker Central Park treten, und da heißt es dann: Das Surreale und das Absurde bieten die präziseste Beschreibung der Realität. Ihr drei seid euch da einig?
Rushdie: Ich glaube einfach, dass die Welt einfach nicht mehr realistisch ist, dass sie einfach nicht mehr so naturalistisch ist, wie sie mal war, sondern die Welt ist so absurd geworden. Ich habe gestern in den Nachrichten Bilder gesehen vom Golf von Mexiko, wo das Meer gebrannt hat. Wenn sich das ein Schriftsteller ausgedacht hätte im Magischen Realismus, hätte man das unglaublich gefunden, und heute sieht man es in den Nachrichten. Und wenn es noch einmal um die Lügen von Politikern geht, Trump hat ja wirklich gesagt, man sollte mit Nuklearwaffen auf Wolken schießen.
Die Absurdität solcher Aussagen zieht sich plötzlich durch unseren Alltag, das Meer brennt und man schaut dem Meer dabei zu. Früher wäre das etwas Surrealistisches gewesen, wenn man das behauptet hätte, insofern hat der Surrealismus eine sehr wichtige Aufgabe, Dinge zu benennen, die eigentlich irgendwo nicht realistisch erscheinen, aber immer realistischer werden. Dadurch ist der Surrealismus ein wichtiger Teil unseres Alltags geworden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Das ganze Gespräch mit Salman Rushdie in der englischen Originalfassung [ AUDIO ]