Salmen Gradowski: "Die Zertrennung". Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos
Herausgegeben von Aurélia Kalisky
Aus dem Jiddischen und mit einem Nachwort von Almut Seiffert und Miriam Trinh
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
354 Seiten, 25 Euro
Er schrieb, als die Krematorien noch brannten
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Der polnische Jude Salmen Gradowski war Mitglied des Sonderkommandos in Auschwitz. Seine heimlich geschriebenen Lagerberichte sind Zeugnisse über den Holocaust, die sprachlos machen. Die Veröffentlichung ist ein Glücksfall.
Seit Claude Lanzmanns Dokumentarepos hat sich neben dem altgriechischen "Holocaust" ("vollständig verbrannt") auch das hebräische "Shoah" ("Katastrophe") als Bezeichnung für die Ermordung von sechs Millionen Juden etabliert. Im Jiddischen aber, der Sprache, die von fünf dieser sechs Millionen gesprochen wurde, wurde schon während der Verfolgung und Ermordung das Wort "khurbn", Zerstörung, verwendet.
Der Band "Die Zertrennung" versammelt einige der unmittelbarsten und wuchtigsten Texte der "Khurbnliteratur", jiddischer Zeugnisse dieser Zerstörung – geschrieben, als die Krematorien in Auschwitz-Birkenau noch brannten, versteckt, um irgendwann gefunden zu werden, und nach der Befreiung des Vernichtungslagers durch die Rote Armee wieder ausgegraben. Der Autor der Texte, der seinen Namen in einleitenden Briefen an die "künftige Friedenswelt" nur verschlüsselt schreibt, ist Salmen Gradowski, polnischer Jude aus Suwałki und Mitglied des "Sonderkommandos".
Albtraumhafte Bilder
Diese Häftlinge, im Verwaltungsdeutsch der Lager auch "Arbeitsjuden" genannt, mussten Hilfsaufgaben übernehmen, das Zyklon B in die Gaskammern einwerfen oder die Kleidung und Körper der Leichen nach Wertgegenständen absuchen. Eichmanns ursprünglicher Plan sah eine regelmäßige komplette Liquidierung des "Sonderkommandos" vor, doch ihre angesammelte furchtbare Expertise erwies sich als zu nützlich.
Einige von ihnen, darunter Gradowski, Leyb Langfus und Salmen Lewental, organisierten sich und schrieben geheime Berichte über ihre Arbeit. In dem von der Herausgeberin Aurélia Kalisky "Komm her, du Mensch" betitelten Text präsentiert sich Gradowski als Vergil, der seine Leser einlädt, einen Blick in die Hölle zu werfen: "Komm, mein Freund, heute muss ein Transport kommen, lass uns hinausgehen auf den Weg, der zum Lager führt, komm, stellen wir uns an eine Seite, um das gräuliche, schauerliche Bild besser beobachten zu können." Das Problem der Unbeschreibbarkeit der khurbn war schon Gradowski bewusst.
Er unterbricht seine genauen Schilderungen von Transporten, Operationen und Lageralltag mit beißenden, albtraumhaften Bildern: "Warum verspottet der Mond die Opfer, die in der finsteren Gruft sitzen? Seine Strahlen tanzen jetzt über sie hin wie Teufel, wollen sie wohl ärgern und scheinen heute mit besonderer Zauberpracht." Im Vorwort wird Gradowski als revisionistischer Zionist und Anhänger von Ze'ev Jabotinsky beschrieben. Andere Häftlinge geben an, dass er nach jedem Transport tefillin und tallis anlegte, um für die Opfer das Kaddisch zu sprechen.
Sensible Übersetzung
Auch seine Berichte zeugen von diesen Prägungen. Er verstand das Überleben und vor allem das Schreiben als Widerstandshandlungen und plante mit anderen Mitgliedern des "Sonderkommandos" einen großen Aufstand. Dieser, so erklärt er frustriert in einer Notiz, wurde durch die anderen "Lagermenschen" immer wieder verschoben. Erst am 7. Oktober 1944 kommt es doch zu einer Revolte, bei der Gradowski stirbt – "im Kampf gefallen" wie ein Soldat oder ein Makkabäer.
Die stilistische Geschlossenheit und Sprachmacht dieser unter fatalsten Bedingungen entstandenen Texte machen sprachlos, die einordnenden Essays und die sensible Übersetzung überbrücken diese Sprachlosigkeit mit großer Vorsicht. Die Ausgabe ist ein Glücksfall – es bleibt zu hoffen, dass auch die Zeugnisse von Leyb Langfus und Salmen Lewental bald mit ähnlicher Sorgfalt veröffentlicht werden.