Samantha Harvey: "Westwind"

Ein plastischer Mittelalterkrimi voller Anspielungen

03:59 Minuten
Das Cover von Samantha Harveys Buch "Westwind" auf orange-weißem Hintergrund.
Samantha Harvey stehe in der Tradition des literarisch und philosophisch gebildeten englischen Kriminalromans, findet Tobias Gohlis. © Deutschlandradio / Atrium
Von Tobias Gohlis |
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Menschen, die lieber einen Mord gestehen als später in der Hölle zu schmoren: "Westwind" erzählt von einem ungeklärten Todesfall in einem armseligen englischen Dorf im Jahr 1491 - und von Schuld, Sühne und dem zerbrechlichen Verhältnis zu Gott.
Es gibt viele Gründe, die Engländer zu beneiden. Für deutsche Krimileser ist es vor allem deren große Tradition einer literarisch und philosophisch gebildeten Kriminalliteratur, die es so in Deutschland leider nie gab. Mit dieser auch in England beinahe verschwundenen Tradition sind große Namen verbunden: Dorothy Sayers, G. K. Chesterton, Michael Innes, Reginald Hill, Andrew Taylor und neuerdings Samantha Harvey.
Die 1975 geborene Autorin, die an der Bath University kreatives Schreiben lehrt, steht in ihrer Heimat immer wieder auf der Shortlist großer Literaturpreise.

Der reichste Mann des Dorfes ertrinkt

"Westwind" spielt im Jahr 1491 im winzigen, von der übrigen Welt durch einen Fluss und seine Überschwemmungen abgeschnittenen fiktiven Dorf in Somerset. Bereits der zweite Versuch, den trennenden Fluss durch den Bau einer Brücke zu überwinden, ist gescheitert.
Tom Newman, der reichste Mann des Dorfes und Motor der Baumaßnahmen, ist ertrunken. Unfall, Mord, Selbstmord?
Icherzähler und Berichterstatter ist Dorfpfarrer John Reve. Ein Dekan, Vertreter der kirchlichen Obrigkeit, ist zu seiner Kontrolle ins Dorf eingerückt. Ein 40-tägiger Ablass von den Feuerqualen der Hölle für alle, die bei Pfarrer Reve zur Beichte gehen, soll Newmans Mörder offenbaren.
Reve steckt in einer Zwickmühle mittelalterlichen Formats: Nennt er keinen Mörder, fällt das Dorf samt Einwohnern an das benachbarte Kloster, liefert er dem arroganten Dekan einen Täter, muss er lügen.

Schuld rückgängig machen – ein Urwunsch

Jeder von uns kennt den vergeblichen inneren Impuls, eine Schuld rückgängig machen zu wollen. Samantha Harvey spielt diesen Urwunsch in der mittelalterlichen Enge von "Westwind" kunstvoll durch.
Beichtvater Reves eigene Beichte lässt sie ihn rückwärts erzählen: Vom Tag, an dem der Pfarrer dem Verlangen des Dekans nachgibt, bis zu jenem Morgen, an dem Newman zu Tode kam und Reve sich anderweitig schuldig machte. Doch dies ist nur der äußere Rahmen dieser unglaublich plastischen, wendungs- und anspielungsreichen Erzählung.
Harvey ist eine Malerin mit Worten: Die Bilder dieses armseligen, ersaufenden Kaffs voller Menschen, die lieber einen Mord gestehen als dereinst in der Hölle zu schmoren, prägen sich ebenso unauslöschlich ein wie das seelische Drama dieses einsamen Pfarrers, dessen Verhältnis zu Gott so zerbrechlich ist wie die Brücke, die ans trockene Ufer einer etwas moderneren Welt führen sollte.

Samantha Harvey: "Westwind"
Aus dem Englischen übersetzt von Steffen Jacobs
Atrium Verlag, Hamburg 2020
382 Seiten, 22 Euro

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