"Die Wunde Irak schmerzte immerzu"
Samirs Dokumentarfilm "Iraqi Odyssee" verbindet zwei Stränge: Die Migrationsbewegungen seiner Familie und die Geschichte des Irak. Seine Heimat sei für ihn immer ein "Phantomschmerz" gewesen, sagt der seit den sechziger Jahren in der Schweiz lebende Filmemacher.
Susanne Burg: Samir, Sie leben seit Ihrer Kindheit nicht mehr im Irak – was hat Sie dazu veranlasst, einen Film zu machen, bei dem es um Ihre familiäre Vergangenheit geht, also sehr stark um die Geschichte des Irak?
Samir: Im Medizinischen gibt es ja den Begriff Phantomschmerz, wenn einem ein Arm oder ein Bein fehlt, schmerzt es trotzdem dort. Diese Wunde Irak, die schmerzte immerzu. Ich kann nicht so tun wie wenn ich nicht davon herkäme. Deswegen war es irgendwie unmöglich, irgendwann einmal – und zwar spätestens nach meinem Film "Forget Bagdad", wo es um irakisch-jüdische Kommunisten ging –, war es eigentlich unmöglich, nicht auch einen Film über meine Familie zu machen.
Burg: Sie haben Ihre Familie, die über der ganzen Welt verstreut ist, aufgesucht, einige Familienmitglieder gefunden, aber einige wollten nicht mit Ihnen reden. Warum nicht?
Samir: Na ja, das war ja ein endloses Kuddelmuddel. Die einen wollten sich unbedingt in den Vordergrund stellen und danach aber nicht mehr. Die einen wollten gar nicht mitmachen und haben dann doch mitgemacht.
Ich wusste, dass ich nicht so wie bei meinen Spielfilmen einfach über Schauspieler verfügen kann, die sich verpflichtet haben. Sondern ich wusste, dass die innerfamiliären psychologischen Verhältnisse natürlich ihren Eigensinn entwickeln und selbstständig werden, weit weg von meinen Absichten.
Auf den Spuren einer globalisierten Familie
Burg: Und Sie haben dann auch beschlossen, offensichtlich Ihre Reise nachzuerzählen auf der Suche nach den Familienmitgliedern und das dann zu verweben mit den politischen Ereignissen des Irak.
Samir: Da war natürlich das Problem von zwei Ebenen, die in diesem Film jetzt formal und strukturell eigentlich zum Ausdruck kommen mussten. Das eine ist: Es geht um eine globalisierte Familie, es geht also eigentlich um eine Tendenz, die in den letzten 20 Jahren eine ungeheure Dynamik entfaltet hat über die ganze Welt.
Die Migrationswellen sind nicht mehr zu vergleichen mit den früheren. Und auch das Verhältnis der Menschen zueinander ist natürlich ganz anders geworden durch die Verzahnung der neuen Technologien, also Internet und diese ganzen Möglichkeiten, schnell miteinander in Kontakt zu treten. Und diese Ebene - das war irgendwie ein schwieriges Ding, das zusammenzubringen. Aber ich glaube, ich habe es geschafft.
Rund 4,7 Millionen Iraker sollen emigiriert sein
Burg: Es sind ja auch noch zwei andere Geschichten, die Sie im Grunde genommen erzählen: Die der Migration durch die politische Lage des Irak, das Ihre Familie stellvertretend für wie viele Iraker – vier Millionen – erlitten hat?
Samir: Ja, jemand hat mir gesagt, es sind 4,7 Millionen. Woher er diese Zahl genau weiß, weiß ich nicht, es gibt auf jeden Fall zum ersten Mal ein Ministerium für Migration, das gab es früher gar nicht. Also für die Ausgewanderten, so heißt es eigentlich, Ministerium für die Exilierten. Das zeigt ja schon mal auf, dass sich der Irak des Problems bewusst ist, dass eigentlich der gesamte Mittelstand ausgewandert ist. Vier bis fünf Millionen, das ist ja ein Fünftel oder ein Sechstel der ganzen Bevölkerung eines Landes.
Man stelle sich das einmal für Deutschland vor, wenn alle Ärzte und Ingenieure und alle studierten Leute weg sind und trotzdem noch eine Beziehung haben zu ihrem Land. Das ergibt natürlich eine ganz andere Struktur der Politik und auch der Zusammengehörigkeit. Also wenn ich hier gefragt werde, ja, was ist das denn, Irak oder die Welt oder Schweiz, kann ich nur sagen: Keine Ahnung, ich bin mitten drin, und für mich gibt es nicht das oder jenes, das gibt es einfach nicht mehr.
Ich habe das auch versucht, glaube ich, auch in meinem Film auf der politischen Ebene zu zeigen: Dass all diese Interventionen des Westens im Irak zu politischen Verhältnissen geführt haben, die die Irakis im ersten Moment auch nicht so wollten. Natürlich sind sie, wenn du so willst, für ihre eigenen Diktatoren verantwortlich. Aber wenn man dann die Hintergründe weiß, was für Konstellationen dann international entstanden sind, dann versteht man auch, weshalb dann vier bis fünf Millionen Irakis auswandern mussten.
Das war das Wichtigste daran an diesem Film, zu zeigen, dass es eine ganz enge Verzahnung zwischen Ost und West gibt und dass man diese Dinge nicht mehr voneinander trennen kann
"Der Irak war nie ein homogenes Gebilde"
Burg: Würden Sie heute einen anderen Film machen als den, den Sie gemacht haben?
Samir: Ich glaube, es hätte meinem Film nicht gut getan, wenn ich unter diesem Damoklesschwert der Isis den Film gemacht hätte. Ich glaube, um Klarheit zu kriegen über die Situation, die gegenwärtige Situation im Irak, muss man auch in Ruhe die Vergangenheit sich mal durch den Kopf gehen lassen. Und ich glaube, mein Film gibt die Möglichkeit, zu verstehen, dass der Irak nicht einfach ein homogenes Gebilde war, schon immer von Anfang an eine Mischung von verschiedenen Kulturen und Religionen war.
So wie ich jetzt das Feedback gekriegt habe von den Irakis, die den Film gesehen haben: Die sagen alle, das ist sowas von wichtig, dass du diesen Film jetzt gemacht hast, auch wenn du fast in einer nostalgischen Art und Weise von der Vergangenheit sprichst. Aber das gibt uns wieder den Mut und auch die Idee, dass wir in der Zukunft wieder einen solchen Staat errichten können.
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