Ozan Zakariya Keskinkılıç und Ármin Langer (Hg.): Fremdgemacht & Reorientiert. Jüdisch-muslimische Verflechtungen
280 Seiten, 18 Euro
Verlag Yılmaz-Günay
Ein komplexes Bild zweier Religionsgemeinschaften
Muslime sind Antisemiten? Freundschaften oder gar Liebe zwischen Muslimen und Juden unmöglich? Ein neuer Band bringt jüdische und muslimische Künstler, Aktivisten und Wissenschaftler zusammen, deren Positionen sonst säuberlich getrennt auftauchen.
Das Ergebnis: ungewohnte Einblicke, auch wenn die wissenschaftlichen und theologischen Beiträge sich an ein Fachpublikum und nicht an die breite Masse richten.
Der Titel "Fremdgemacht & Reorientiert – jüdisch-muslimische Verflechtungen" impliziert eine der Gemeinsamkeiten von Juden und Muslimen: Sie sind Projektionsfläche der Fremdheit, von Zuschreibungen, die ihnen von außen, von der Mehrheitsgesellschaft, herangetragen werden. Wenn die Historikerin Yasemin Shooman im Vorwort feststellt, dass die Herausgeber mit diesem Buch kein Neuland betreten, wohl aber ein vermintes Feld, dann ist das angesichts aktueller Diskurse und Debatten rund um Integration und Identität(en) schon fast untertrieben.
Die Vereinnahmung des "Jüdischen"
Daher ist die Analyse im Beitrag von Iman Attia, Professorin für Critical Diversity Studies, wichtig, um gleich zu Beginn den Tenor des Buches festzulegen: So weit sind Juden und Muslime gar nicht voneinander entfernt. Der nächste Mythos, mit dem das Buch mehrfach implizit und explizit aufräumt: So selbstverständlich, wie das "Jüdische" in dem christlichen Abendland mitgenannt wird, ist es gar nicht. Und längst nicht alle reagieren euphorisch auf diese Form der Vereinnahmung. Iman Attia bezieht sich auf die jüdische Philosophin Almut Shulamit Bruckstein Çoruh:
"Es stockt einem der Atem bei so viel Geschichtsvergessenheit. Es ist gruselig, mit welchem Pathos der geistigen und moralischen Überlegenheit die selbst ernannten Vertreter des jüdisch-christlichen Abendlandes muslimischen Zeitgenossen […] die europäische Aufklärung vorhalten. […] Nein, es gab keine jüdisch-christliche Tradition, sie ist eine Erfindung der europäischen Moderne und ein Lieblingskind der traumatisierten Deutschen."
Widersprüche in den Communities
Denn: Auch außerhalb Europas lebten Juden. Deren Geschichten kommt aber in den aktuellen Diskursen kaum bis gar nicht vor. Shemi Shabat, der in Schulen Workshops zum so genannten Nahost-Konflikt durchführt, kommt in dem Kapitel zu "Utopien und Widerstände" genau damit zu Wort: Seine Eltern kamen im Irak zur Welt, sein Großvater, ein Rabbiner, ist aus Bagdad.
Neben persönlichen Geschichten dieser Art finden sich wissenschaftliche, theologische und historische Analysen, die sich eher an ein Fachpublikum richten. Aufgelockert wird das Buch durch Interviews mit muslimischen und jüdischen Künstlern und Aktivisten, die in der Analyse nicht unkritisch bleiben, sondern Widersprüche und Konflikte innerhalb der einzelnen Communities ansprechen. So zeichnet der Sammelband ein komplexes Bild zweier Religionsgemeinschaften und eröffnet neue Zugänge zu Debatten, deren Ende nicht abzusehen ist.