Friedrich Christian Delius: Tanz durch die Stadt - Aus meinem Berlin-Album
Mit Fotos von Renate von Mangoldt
Transit Verlag, Berlin 2014
128 Seiten, 16,80 Euro
So kann es nicht gewesen sein
In Hessen ist Büchner-Preisträger F.C. Delius aufgewachsen, über Rom hat er viel geschrieben, nun gibt es sein persönliches "Berlin-Album". Es bietet eine klischeebehaftete Perspektive auf die vormals geteilte Stadt.
In Wirklichkeit war alles ganz anders. Keiner weiß das besser als Friedrich Christian Delius. Die Erinnerung – auch wenn sie den Weg zurück noch so unvoreingenommen einschlägt – landet doch fast unvermeidlich in Klischees. Die können durchaus stimmen, und doch ist klar, dass es so nicht gewesen sein kann.
Delius belegt dieses Problem der Geschichtsschreibung anhand der 68er-Epoche. Er hat einige Bücher darüber geschrieben ("Amerikahaus und der Tanz um die Frauen") und weiß aus eigener Erfahrung, wie rasch die retrospektive Darstellung in ihrer Konzentration auf die bedeutenden Ereignisse die historische Wahrheit verpasst. Diese Differenz spielt auch in dem kleinen West-Berlin Sammelband "Tanz durch die Stadt" eine Rolle. Auch die da zum Panorama versammelten West-Berlin-Szenen und Schnappschüsse sind alle nicht falsch, aber eben auch schon allzu bekannt und in der Summe zu erwartbar, um West-Berlin jenseits der Klischees erfassen zu können.
Klischeehaftes in Schrift und Bild
Der Band versammelt kleine Auszüge aus Delius' Romanen, literarische Feuilletons, kunstlose Erinnerungsprosa und Gedichte und kombiniert das Ganze mit Fotos von Renate von Mangoldt, die an derselben Klischeehaftigkeit leiden, sich also geradezu kongenial einfügen. Bahngleise, Currywurstbude, Kohlenträger, Rentner und Hunde, Studentendemonstrationen, Grenzübergänge und Aussichtsplattform über die Mauer am Potsdamer Platz – das sind die Bild-Motive, die Delius auch in seinen Texten bearbeitet. West-Berlin fing ja in Helmstedt an und setzte, bevor man ankam, das Transitgefühl und das Warten an den Grenzübergängen voraus. Hier, in den Warteschlangen, formte sich vorübergehend die West-Berliner Gemeinschaft, die dann aber, im Inneren der Stadt, rasch wieder in ihre verschiedenen Milieus zerfiel.
Spießertum und Studenten, Kneipen und Künstler und vor allem viele, die glaubten, Künstler zu sein, Grüne Woche und Gedächtniskirche, Frontstadt-Heroentum und Union-Briketts aus der DDR, Teufelsberg und Grunewald und der einbetonierte Cadillac von Wolf Vostell: All das war West-Berlin – und doch war alles ganz anders. Delius kannte die Schriftsteller in Ost und West, die Szene um Manfred Bieler und Günter Bruno Fuchs. Er weiß, wie schön es war, nach dem Kneipenbesuch noch gemeinsam an die Mauer zu pinkeln, kennt aber auch das Grauen der Grenze und die absurde Anpassungsfähigkeit der Menschen.
In kleinen Welten gefangene Protagonisten
Wie jeder Blick auf die geteilte Stadt so ist auch dieser nur ein kleiner Ausschnitt, der durch all die anderen Perspektiven zu ergänzen wäre. Keinerlei Berührung gibt es beispielsweise zu dem West-Berlin, das Wolfgang Müller in seinem Buch über die Sub-Kultur der 1980er-Jahre geschrieben hat. Das liegt nicht nur an den sich ändernden Zeiten und sich ablösenden Generationen, sondern auch daran, dass es möglich ist, in Berlin in unterschiedlichen Welten zu leben, die einander nicht zur Kenntnis nehmen. Das ist eine Botschaft, die implizit auch in "Tanz durch die Stadt" steckt. Dass Delius durchaus unironisch glaubt, es wäre "überall im Lande die leidenschaftliche Nachfrage nach meinen Thesen und Meinungen zu spüren", passt dazu. Das glauben all die anderen, in ihren spezifischen kleinen Welten gefangenen Protagonisten der Stadt auch.