Sammlung von Schallplatten aus aller Welt

Lieder erzählen vom Völkermord an den Armeniern

Armenier fliehen vor der türkischen Verfolgung (1915)
Armenische Flüchtlinge: 1915 wurden im Osmanischen Reich bis zu 1,5 Millionen Armenier getötet. © CPA Media/ Pictures From History / dpa
Von Kemal Hür |
Sie handeln vom Genozid im Osmanischen Reich, vom Auswandern, dem Verlust der Heimat: fast vergessene armenische Klagelieder. Der Kulturanthropologe Yektan Türkyilmaz hat sich auf musikalische Spurensuche begeben und tausende Schallplatten zusammengetragen.
Eine Aufnahme aus den frühen 1920er-Jahren: Der armenische Sänger Vahan Boyajian singt in diesem Klagelied vom Genozid an seinem Volk im Osmanischen Reich. Die Schallplatte wurde in New York aufgenommen. Neu entdeckt hat sie der Kulturanthropologe Yektan Türkyilmaz, der seit einem Jahr als Wissenschaftler in Berlin lebt.
"Dieses Lied erzählt einen wichtigen Teil des Genozids. Es geht um die Deportation der Armenier in die syrische Wüste Deir ez-Zor, aber auch den ideologischen Hintergrund, warum Armenier Opfer des Genozids wurden, dass ihre Religion eine Rolle gespielt hat, dass es auch ethnische Ursachen gab. Es wird aber auch erzählt, dass sie aus nationalistischen Gründen vernichtet wurden – und dass der Staat für alles verantwortlich war."
Mittlerweile verfügt er über eine Sammlung von etwa 3000 Schallplatten mit armenischer, griechischer und kurdischer Musik, die er im Internet gesucht und in Afrika, Asien und Amerika gefunden hat.

Auswanderer gründeten Dutzende Plattenfirmen

1915 wurden im Osmanischen Reich bis zu 1,5 Millionen Armenier getötet. Ein Teil der Überlebenden wanderte in die USA aus. Dort haben sie ab den 20er-Jahren Dutzende Plattenfirmen gegründet.
"Es handelt sich um eine Diaspora-Gemeinschaft, die durch den Genozid ihre Heimat verloren hat. Es gibt sehr viele Lieder, die genau davon handeln: Wo können wir hingehen? Was können wir tun? Es gibt ja keinen Ort mehr, an den sie zurückkehren können."

"In der Fremde brauchen sie Heldengeschichten"

Der Forscher stellt fest: Der Genozid mit all seinen Gräueltaten wird in den wenigsten Liedern explizit thematisiert. Vielmehr sind in der Musik Botschaften in Form von Erinnerungen und Sehnsüchten versteckt. So finden sich Spuren des Genozids sogar in Liebesliedern, sagt Türkyilmaz.
"In einer Strophe in diesem Lied heißt es: Hafte dir Flügel an und flieg zu mir wie ein Vogel. Dass der Geliebte nicht kommen wird, ist ja eine Gewissheit. Er ist fort. Aber ein Hoffnungsschimmer besteht trotzdem."
An einer Stelle fällt der Name des osmanischen Kriegsministers Enver Pascha, gefolgt von dem armenischen Widerstandskämpfer und Nationalhelden Andranik.
"Sie wollen sich lieber an Heldentaten erinnern. Sie versuchen sich an den Widerstand zu erinnern. Denn in der Fremde brauchen sie Heldengeschichten. Wir stellen fest, der Genozid wird immer eingebettet in das Oberthema Verlust. In der Ganzheit des Verlustes wird vom Völkermord erzählt."

Moderne Musik weicht traditionellen Liedern

Yektan Türkyilmaz hat die Aufnahmen der 20er- mit denen der 40er- und 50er-Jahre verglichen und stellt fest: In den frühen Platten dominieren Komponisten, die im Osmanischen Reich in Istanbul eher moderne Musik arrangiert und produziert haben – oft auch in türkischer Sprache. In den späteren Aufnahmen finden sich immer mehr authentische armenische Lieder in der Originalsprache. Türkisch verschwindet nach und nach gänzlich.
Türkyilmaz möchte seine angefangene Musikforschung in Berlin weiterführen und irgendwann veröffentlichen. Das Thema möchte er ausweiten auf alle verfolgten Völker im Osmanischen Reich: Armenier, Griechen, Aramäer, Kurden und ihre Erinnerungskultur in der historischen Musik. Ein wenig erforschtes, aber weites Feld.
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