Im Weltzeit-Podcast hören Sie außerdem ein Interview mit Madlen Vartian aus der armenischen Gemeinde in Köln über die Hoffnungen der armenischen Diaspora.
We don't like Sowjetzeit
24:47 Minuten
Was in Armenien im Mai geschah, ist einzigartig in der Region: Eine starke Zivilgesellschaft demonstrierte die langjährigen Machthaber aus dem Amt. Vor allem die Facebook-Generation erwartet jetzt viel vom neuen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan.
Wochenlang gingen tausende Armenier auf die Straßen. Vor allem die Jüngeren riefen lautstark nach einem Ende von Machtmissbrauch, Korruption und Vetternwirtschaft im Drei-Millionen-Land. Auch Sona wollte dabei sein:
"Ich habe meine Eltern angelogen und bin einfach hingegangen. Als sie das herausgefunden hatten, dass ich bei den Protesten war, wollten sie es mir verbieten. Aber nach zwei Tagen haben sie aufgegeben. Und danach war ich jeden Tag auf der Straße. Wenn Du die Chance hast deine Stimme zu erheben und diese schrecklichen Dinge anzusprechen in unserem politischen System, solltest Du es tun, egal wie hoch das Risiko ist."
Sona ist 15 und lebt in Jerewan. Die armenische Hauptstadt war das Zentrum der "samtenen Revolution". Vorläufiger Höhepunkt: die Wahl von Nikol Paschinjan zum neuen Ministerpräsidenten am 8. Mai, obwohl seine kleine Partei keine Mehrheit im Parlament hat. Neuwahlen sollen noch in diesem Jahr folgen. Beginnt nun das Ende der Sowjetzeit? So hoffen es die Jüngeren im Land, die vor allem bei den Demonstrationen zu sehen waren.
"Meine Freunde und ich, wir haben einen Gruppenchat, und wir alle haben an den Protesten teilgenommen. Zwei von ihnen wurden sogar von der Polizei festgenommen. Und ich: Ich hatte große Angst. Meine ganze Familie war bei den Protesten, auch mein 12-jähriger Bruder. Alle haben laut gerufen und geklatscht auf den Straßen. Es war unglaublich. Ich kann gar nicht beschreiben, wie aufregend und beeindruckend es ist, so was zu mitzuerleben."
Yana ist 16. Sie wirkt sehr selbstbewusst und dadurch ein bisschen älter. Sie hat braune lockige Haare, trägt enge Jeans und ein T-Shirt. Leidenschaft, Kampfgeist und Stolz liegen auf ihrem Gesicht, wenn sie von den jüngsten Protesten erzählt:
"Unsere Regierung war sich so, so sicher, dass sie im Amt bleiben würde. Niemand hat wirklich an die Möglichkeit einer Veränderung geglaubt, aber hier sind wir nun und die Veränderung ist da und ich bin sehr stolz darauf."
Der politische Wandel in Armenien begann, als die regierende Republikanische Partei ihren Kandidaten Sersch Sargsjan zum Ministerpräsidenten machte. Der war vorher Staatspräsident und hatte das politische System Armeniens extra so umgebaut, dass er künftig als Ministerpräsident mehr Macht hat. Nach sechs Tagen musste er dann den Posten räumen. Der Druck der Straße war zu groß. Vor allem von den Jüngeren: Fast drei viertel der Demonstranten waren unter 30.
Neues Denken aus dem Tumo-Center
Kaum ein Ort verkörpert diesen Aufbruch der jungen Generation stärker als das Tumo Center for Creative Technologies: Ein privates Lerninstitut, das in Armenien jeder Taxifahrer kennt. Auch Yana studiert hier. Wie rund 10.000 andere Jugendliche in Jerewan nutzt sie ihre Freizeit nach der Schule, um an einem hochmodernen, progressiven Selflearning Programm teilzunehmen – freiwillig und eigenverantwortlich.
Neben Inhalten wie Game Development und kreativem Schreiben sollen hier vor allem soziale Kompetenzen gestärkt werden: Teamarbeit, Zeitmanagement und Kommunikation bis hin zum Austausch mit anderen Kulturen. Dafür reisen junge Kreative aus anderen Ländern an, um in Workshops ihr jeweiliges Knowhow weiterzugeben. Während der Proteste blieben die Räume allerdings leer.
"Das freie Denken, eigene Ambitionen verfolgen und selbst Verantwortung für die eigene Zukunft zu übernehmen, all das wollen wir unseren Studierenden mitgeben – und davon habe ich viel auf den Straßen gesehen während der Demos. Die vielen jungen Gesichter. Sie hatten keine Angst. Diese Generation zu sehen, war wunderbar!"
Harmick Azarian ist Software Developer am Tumo Center in Jerewan. Er ist rothaarig, mit Sommersprossen und trägt ein weißes Polohemd. Halb Brite, halb Armenier, entschied er sich vor drei Jahren, nach Armenien zu ziehen, ohne je vorher hier gelebt zu haben. Eine unerklärliche, für Diaspora-Armenier aber typische, Anziehungskraft zog ihn her, wie er sagt. Auch die armenische Politik verfolgt er schon, solange er denken kann. Und neulich sahen die Demos auf einmal anders aus:
"Normalerweise waren es hauptsächlich Männer zwischen 40 und 50. Und nun habe ich Zehnjährige gesehen, 15-Jährige, viele Mädchen, viele Frauen, viele junge Leute. Und was mich besonders beeindruckt hat: Diese jungen Leute diskutierten über politische Angelegenheiten. Das ist das erste Mal, dass ich so etwas in Armenien gesehen habe."
Revolution dank schnellem Internet
Im Tumo-Center sitzt Yana vor einem Mac-Computer. Sie klickt ein YouTube-Video an, auf dem zu sehen ist, wie die Polizei das Parlament vor den Demonstranten abschirmte.
"Einer der Demonstrierenden erkannte bei den Polizisten einen Freund. Er rief seinen Namen: Ashod – Deine Eltern sind hier drüben und unterstützen die Proteste und was machst du? Verteidigst du die Leute, die unser Leben ruinieren? Deiner Mutter tun die Beine weh und was machst du! Aber Ashod reagierte nicht. Stell dir vor: Wie er sich geschämt haben muss."
Videos wie dieses kursierten täglich in den sozialen Medien und mobilisierten tausende Unterstützer für bestimmte Aktionen. Die rasend schnelle Verbreitung der Protest-Inhalte war ironischerweise nur möglich, weil die alte Regierung das Internet in Armenien sehr gut ausgebaut hatte – genauso wie das Mobilfunknetz. Ein entscheidender Faktor für den Erfolg der Proteste, zumal die offiziellen Medien wegen ihrer Nähe zur Regierung der Berichterstattung aus dem Weg gingen. Als die Proteste ihren Höhepunkt erreichten, liefen im Fernsehen Spielfilme.
Kaum verwunderlich also, dass auch Nikol Paschinjan von Anfang an die sozialen Medien nutzte, bis heute als Ministerpräsident nutzt er "Facebook Live" fast täglich für politische Ansprachen. In Armenien ein völlig neuer Regierungsstil, von dem sich vor allem die Jüngeren angesprochen fühlen.
"This 18 years old, 20 years old are the ones who were born of course after the collapse of the Soviet Union."
Marie Lou Papazian ist die Vorsitzende von Tumo. Zusammen mit ihrem Mann Pegor und zwei weiteren Diaspora-Armeniern haben sie das private Lehrinstitut 2011 ins Leben gerufen. Ihr Büro befindet sich direkt neben der Cafeteria von Tumo und ist durch Glaswände offen einsehbar. Sie trägt weite Stoffhosen und sehr kurze Haare und macht einen unkonventionellen Eindruck.
"Bis heute wiederholen die alten Leute, dass früher alles besser war und wenn man nachhakt, stellt sich raus, sie waren zufrieden, weil sie genug hatten und ihr Leben nicht mit dem anderer vergleichen konnten. Es gab kein Internet, die Nachrichten waren begrenzt. Und ja, ich stimme ihnen zu, es war okay im Sinne von: Genug zu essen, Gesundheitsversorgung, Bildung und sie konnten in der Sowjetunion Urlaub machen. Aber etwas fehlte: Nämlich die Freiheit, selbst zu entscheiden, was man mit seinem Leben anfangen will. Und ich denke Armenien kann heute beides haben."
Den Jugendlichen in Armenien ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen – das ist das langfristige Ziel von Tumo. Das Projekt sei daher enorm wichtig für die Teenager, sagt Natia Mikoladse-Bachsoliani, Leiterin des kürzlich eröffneten Goethe-Zentrums in Jerewan. Die junge Generation wolle die alten Werte der armenischen Gesellschaft nicht länger mit sich herumtragen.
"Die Mentalität, die die Eltern haben, das ist die sowjetische Mentalität in den Köpfen der älteren Generation, ich sag immer, das ist die Mentalität, die weniger zivilgesellschaftlich oder es ist meistens die Mentalität, wenn man sagt, ich und alles, was um mich passiert, ist mir wichtig, und alles andere ist mir etwas unwichtig. Die neue Generation, die wächst damit auf, erstens mit diesen neuen Medien, aber auch mit diesen neuen Werten, liberalen Werten, und mit dem Gedanken, dass ich nicht alleine bin, sondern irgendwie in dieser Gesellschaft bin und ich auch was dafür tun muss."
Tumo will die Mentalität der Jugendlichen verändern
Jeden Tag gegen 15.30 Uhr strömen die rund 10.000 Studierenden in das Gebäude und fluten die zahlreichen Arbeitsplätze: Quer durch den Raum verteilt stehen mobile Sitzelemente, auf denen Mac-Computer installiert sind, sodass je nach Belieben alleine oder in Gruppen gearbeitet werden kann.
Ausgehend von den vier Schwerpunktbereichen Animation, Webdesign, Game Development und Filmmaking, kreieren die Studierenden ihren eigenen Lehrplan. Sie haben unter anderem die Wahl zwischen 3D-Modeling, Animation, Filmmaking, Creative Writing und Fotografie und können dabei nicht nur flexibel entscheiden, was sie lernen, sondern auch in welcher Reihenfolge, erklärt Pegor Papazian.
"Wir haben zwei Ziele: Einmal lehren wir die Fähigkeiten, die auf dem globalen Markt gefragt sind, wie digitale Medien, Software-Entwicklung, Programmieren. Wobei nur zehn bis 20 Prozent unserer Jugendlichen dort wirklich später arbeiten. Was wir aber für alle erreichen wollen, ist ihre Mentalität zu verändern. Wie werden sie glücklicher? Wie können sie eine fairere, offenere Gesellschaft gestalten? Das wollen wir ihnen beibringen. Und dafür müssen wir sie mit genügend Respekt behandeln, sie herausfordern. Damit sie innerlich reifen und zu gesunden, glücklichen Menschen heranwachsen. Dieser Mentalitätswechsel ist also unser Hauptanliegen."
Um das Tumo Projekt vor Ort zu leiten, sind die Papazians vor einigen Jahren aus den USA nach Armenien gezogen. Als Teil der armenischen Diaspora im Libanon geboren, waren beide fürs Studium in die USA gegangen; ebenso wie Sylva Simonian und ihr Mann Sam – ein Tech-Unternehmer. Sie stecken hinter der kompletten Finanzierung des Tumo-Projekts: Rund 30 Millionen Dollar haben sie investiert und stiften noch mehr, um die Kapazitäten auszubauen: Drei weitere Tumo-Standorte gibt es inzwischen im Land. Zwei weitere sollen folgen.
Dezentralisierung ist sehr wichtig für Armenien, sagt Natia Mikoladse-Bachsoliani vom Goethe-Institut:
"Das Land ist klein, aber es konzentriert sich sehr vieles in die Hauptstadt. Die Hauptstadt ist so wie ein Magnet, denn es gibt wenig Arbeit in der Region und wenig Chancen und viele kommen in die Hauptstadt, aber es passiert zu wenig in Städten wie Gyumri, Vanadzor, Dilijan und Tumo hat es auch verstanden, da Zentren zu öffnen, um dort vor Ort auch die jungen Leute zu bedienen oder zu interessieren."
Der Besuch von Tumo ist landesweit kostenlos und es gibt keinerlei Zugangskriterien, mit Ausnahme der Altersbeschränkung: 12 bis 18 Jahren. Die Warteliste ist entsprechend lang. Die, die wie Yana und Sona einen Platz ergattert haben, erzählen von einem veränderten Lebensgefühl.
"Ich wäre nicht die gleiche, wenn ich nicht hier studieren würde. Ich wäre nicht so offen. Es hat mir definitiv geholfen in der Art, wie ich kommuniziere und wie ich denke."
"Hier werden viele Themen diskutiert, die außerhalb nicht auf den Tisch kommen. Und, dass hier alle kostenlos mitmachen können, ist absolut großartig. Ich kenne Leute in meiner Schule, die sehr arm sind, aber wirklich was drauf haben und sie verdienen die selben Chancen."
Armeniens Schulsystem - eine Zweiklassengesellschaft
Wie an Sonas Schule haben im regulären Schulsystem längst nicht alle Kinder den gleichen Zugang zu Bildung. Vielmehr generieren die jeweilige finanzielle Situation der Eltern und unterschiedliche Budgets im armenischen Bildungssystem eine Art Zweiklassengesellschaft, erklärt Natia Mikoladse-Bachsoliani vom Goethe-Institut:
"Es ist wahrscheinlich wie überall in den postsowjetischen Ländern sehr ähnlich, es gibt private Schulen, die dann auch sehr teuer sind, die haben eine gute Infrastruktur, die normalen Schulen natürlich sind in einer schwierigen Lage, weil es sehr wenig Geld im Budget für die Bildung gibt, genauso wie in den anderen Ländern der postsowjetischen Region generell. Das ist ein großer Unterschied, der dann entsteht."
Bei Tumo gibt es weder Noten noch Zeugnisse. Die Teenager erstellen sich selbst ein Online-Portfolio, bei dem sie entscheiden können, welche ihrer Resultate sichtbar sind und welche nicht. Keine Vergleichbarkeit, keine Konkurrenz – Tumo soll einen Freiraum gewährleisten, sagt Leiter Pegor Papazian:
"Die Sowjetunion war darauf ausgelegt fünf Prozent einer brillanten Elite zu produzieren, um den Kalten Krieg zu gewinnen, und Olympische Goldmedaillen. Und alle anderen wurden rausgefiltert, was sehr schlecht ist für die Wirtschaft und die Gesellschaft. Und die Schulen sind immer noch ein bisschen so. Wir sind genau das Gegenteil, weil wir mehr als 10.000 Kinder haben, also können wir den fünf Brillantesten kaum Aufmerksamkeit schenken. Wir sind also eine Art Gegengewicht zu dem, was außerhalb passiert."
Die Welt soll durch Tumo von Armenien lernen
Bis Ende des Jahres soll auch in Beirut ein Tumo-Center eröffnen, zwei weitere entstehen in Paris und Moskau. Außerdem sind Tumo-Standorte in Dubai, Abu Dhabi und Doha geplant. Unter anderem durch dieses Franchise-Modell sollen künftig die armenischen Tumos finanziert werden, um von Spenden unabhängig zu werden. Marie Lou Papazian:
"So ein Projekt ist nicht nur gut für wenig entwickelte Länder, es kann auch interessante Resultate bringen für Staaten wie Frankreich. Einfach mal andersherum: Hoch entwickelte Länder lernen von weniger entwickelten wie Armenien. Klar, vielleicht gibt es in Paris Schulen, mit verschiedenen Technologien auf dem Stundenplan. Aber bei Tumo geht es auch um soziale Aspekte, was du mit den Technologien machst, wie du die Dinge angehst und ihr Potential für die Zukunft einschätzt. Tumo ist keine Schule. Tumo gibt dir die Möglichkeit, zu experimentieren, dein inneres Potenzial zu finden, keine Angst davor zu haben. Es ist eine neue Perspektive."
Nachdem die erste Euphorie verstrichen ist, heißt es jetzt abwarten. Noch in diesem Jahr will Nikol Paschinjan freie und faire Wahlen abhalten. Bis dahin müssen erste Konzepte zur Lösung der Probleme des Landes auf dem Tisch liegen: die grassierende Korruption und die jährliche Abwanderung tausender junger Armenier. Ein sehr emotionales Thema im Land, das auch Tumo auf der Agenda hat: Die Fähigkeiten, die Tumo den Jugendlichen vermittelt, können ihnen dabei helfen, Jobs in der Digitalbranche zu ergreifen, die sie in Armenien genauso gut machen können wie in Russland, Europa oder Nordamerika. Aber noch ist das Zukunftsmusik. Yana und Sona wollen nicht in Armenien bleiben:
"Ich denke nach wie vor nicht, dass ich hier bleiben werde. Ich will im Ausland studieren, vielleicht auch arbeiten. Aber ich hoffe, dass ich als Mitglied der Diaspora in der Lage sein werde, meinem Land zu helfen und viel investieren, um zur Entwicklung beizutragen. Denn man sollte seine Wurzeln nicht vergessen und woher man kommt."
"Ich hoffe, eine Ausbildung außerhalb von Armenien zu bekommen, weil die Kunsthochschulen hier nicht sehr gut sind. Danach komme ich vielleicht wieder – um die Kunstwelt weiterzuentwickeln oder ich werde Lehrerin hier am Tumo Center oder Spieleentwicklerin oder Designerin. Ich möchte dabei helfen, dieses Land, das bereits so viele Schritte gemacht hat, um besser zu werden, noch besser zu machen."