"Für mich ist das eine entsetzliche Vorstellung, dass ich vielleicht einmal meinen Enkelkindern Bilder von einem Gorilla zeige, und sie glauben mir nicht, dass er jemals gelebt hat. Insofern macht es Angst, dass Tiere zur Fiktion werden".
Futuristische Mutationen im ehemaligen Bahnhof
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Sandra Mujinga hat den Preis der Nationalgalerie erhalten. Zu der Auszeichnung gehört die Ausrichtung einer Einzelausstellung. In "I Build My Skin With Rocks" im Hamburger Bahnhof zeigt die Künstlerin mysteriöse Wesen auf riesigen Bildschirmen.
Ein neun Meter hoher schwarzer Kasten beherrscht die ehemalige Bahnhofshalle. An seiner Stirnseite ein riesiger Bildschirm, auf dem Körperteile eines unbekannten Wesens aus dem Dunkel auftauchen. Ledrige Haut, die sich in Fetzen aufzulösen scheint. Metallisch schimmernde Schuppen, die wie Quecksilber verlaufen.
Ein menschlicher Kopf, der von einer Gallert-Masse überzogen ist. Hin und wieder funkelt ein kristallhelles Auge. Für ihr unheimliches Werk „I Build My Skin With Rocks“ hat Sandra Mujinga eine futuristische Mutation erfunden.
Wesen im ewigen Wandel
"Ich habe mir eine Kreatur vorgestellt, die ihre Gestalt verändern kann. Manchmal denkt man an einen Elefanten, dann an einen Menschen. Aber man kann auch andere Merkmale entdecken. Sie hat jede Menge Körperflüssigkeiten. Sie benutzt Beton als Schale, um eine widerstandsfähige Haut zu bekommen. Ich habe mir ein Wesen vorgestellt, dass sich permanent wandelt, weich wird, hart wird und sich so der Umwelt anpasst", sagt Mujinga.
Die Künstlerin erscheint in einem bodenlangen schwarzen Ballrock, darunter trägt sie schwere Lederstiefel des New Yorker Unisexlabels Telfar. Die türkis lackierten Fingernägel blitzen irritierend. Auch Kleidung ist für Sandra Mujinga Skulptur.
Ihr Auftritt als schwarze Figur im weißen Museumsraum kann als politischen Aussage verstanden werden. Ausgangspunkt für ihre Schimäre in der Videoinstallation war eine Notiz zum geänderten Verhalten von Elefanten: Um sich vor Wilderern zu verstecken, leben die Tiere zunehmend nachtaktiv.
Für ihren Film hat Sandra Mujinga aus altem Leder und Kunstleder eine neue Elefantenhaut genäht. Darin bewegt sich eine Performerin, taucht nur kurz aus der Dunkelheit auf und zieht sich wieder zurück. Indem sich das mysteriöse Wesen permanent verwandelt, ist es perfekt an die Umwelt angepasst.
Aus Afrika nach Norwegen - und zurück
Sandra Mujinga, 1989 in der Demokratischen Republik Kongo geboren, wuchs in Norwegen auf. Als sie zwölf Jahre alt war, zog ihre Familie nach Kenia, damit die Kinder die Erfahrung machen, nicht immer die „Anderen“ zu sein. In ihrem Werk geht es auch um diese Ambivalenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Die Kreatur in ihrem Film wählt die Dunkelheit als Schutz.
"Die Dunkelheit bietet Sicherheit. Die Dunkelheit wird oft mit Angst verbunden. Aber sie ist an die Dunkelheit gewöhnt und kann darin leben. Und weil wir nicht an die Dunkelheit gewöhnt sind, können wir sie nicht finden. Insofern ist die Dunkelheit für sie ein Zuhause", beschreibt Mujinga das Wesen in ihrem Film.
"I Build My Skin With Rocks" – der Titel des Werks zitiert den karibischen Dichter Edouard Glissant. Sein Satz "Ich baue meine Sprache mit Steinen" sollte sein Denken und Schreiben vor den Einflüssen der Kolonialmacht Frankreich bewahren. Sandra Mujingas Kunst wirkt auf subtile Weise politisch.
Nachdenken über fluide Identitäten
Allein die Ausmaße der Arbeit verändern die Verhältnisse, sagt der Kurator Daniel Milnes: "Das spielt mit, dass man die Weltanschauung verändern kann. Durch diese Verschiebung, die stattfindet, indem man eine Arbeit macht, die so riesig ist, dass alles andere dann klein aussieht. Dass man denkt, okay: Irgendwas um uns herum formt uns, bildet unsere Weltperspektive und das muss man vielleicht auch infrage stellen, obwohl wir das als Normalität empfinden."
Begleitet von der mäandernden Musik ist das mysteriöse Wesen mit seiner Haut aus Steinen ein Vorschlag, über fluide Identitäten nachzudenken: "Ich benutze die Musik für Zeitreisen. Und als Anker. Es ist wunderschön, dass man wieder in seinen Körper als Teenager zurückehren kann, wenn man einen Song hört. Musik ist für uns eine Möglichkeit, Zeit zu erfahren", sagt Mujinga.
Weltenbau nennt Sandra Mujinga ihre Kunst. In ihrer Arbeit imaginiert sie eine Zukunft ohne die Beschränkung von Hautfarbe, Alter, Geschlecht oder Körper. Ihre geisterhafte Erscheinung lebt irgendwo zwischen Science-Fiction und morgen.
Die Ausstellung "IBMSWR: I Build My Skin With Rocks" ist noch bis zum 1.5.2023 im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen.