Das unwirkliche Flimmern der Erinnerungen
Woran erinnern wir uns? Was machen wir im Rückblick schöner und was vergessen wir lieber? Diese Fragen stellt sich die Regisseurin Sandra Wollner in "Das unmögliche Bild". Der Film schildert das Familienleben in den 50ern, aufgenommen von einem jungen Mädchen mit einer Super-8-Kamera.
Patrick Wellinski: Herzlich willkommen, Sandra Wollner!
Sandra Wollner: Hallo, schön, ich freu mich, dazusein!
Wellinski: Was war denn die Ausgangsidee für "Das unmögliche Bild"?
Wollner: In erster Linie war es mal eine formale Idee, also eigentlich der Wunsch, in eine Zeit zu springen, in dem Fall eben die späten 50er, aus der wir keine so gut dokumentierten, sag ich mal, Familienerkenntnisse, Familienvideos haben. Und das war so eine Idee, die ich schon länger hatte, eigentlich so eine Art Direct Cinema zu gestalten, keine Mockumentary, jetzt nicht um da zu sehr in die Irre zu führen, sondern um so ein Gefühl zu erzeugen, als könnte man in dem Raum sein bei diesen Menschen, bei belanglosen Gesprächen, bei Dingen, wie wir sie heute erleben, wenn wir quasi dokumentarisch irgendwo arbeiten, und in eine Zeit zu springen. Das war mal so die Grundidee. Und dann hat sich relativ bald eigentlich so …
Also zuerst war mal die Form da tatsächlich, dieses Gefühl, sich loszulösen von etwas vermeintlich Dokumentarischem hin zu einer Narration. Das war so eine vage Idee, die ich schon hatte.
Sich in der Vergangenheit umschauen
Wellinski: Und dann musste ja irgendwann die Geschichte konstruiert werden, sagen wir es mal vorsichtig, ein Plot, aber vor allen Dingen eine Familie erzeugt werden. Da ist Johanna, deren Vater stirbt, und der vermacht ihr eine Kamera, eine Super-8-Kamera. Und sie macht das, was so viele machen, sie richten die Kamera auf das, was sie kennen, auf die Welt um sie herum. Und in dem Fall ist das ihre Familie. Man sieht da auch den Opa, der noch mit seinen Kriegsgeschichten da am Tisch sitzt, die Oma hat einen ominösen Kochclub, da ist die Mutter, da ist die kleine Schwester. Wird Johanna zur Reporterin ihres eigenen Lebens?
Wollner: Ja, auf jeden Fall. Es war so, dass ich eine Frau kennengelernt habe, die in ähnlichen Umständen, sage ich mal – viele Charaktere sind natürlich dazuerfunden – aufgewachsen ist, in den 50ern, die circa so alt war wie Johanna und eine sehr spannende Familiengeschichte hatte, und mit der ich mich unterhalten habe und dann gemerkt habe, dass sie natürlich die Person ist, mit der ich am meisten … mit einem neugierigen Blick in eine Zeit, in die ich ja noch nicht blicken konnte, sozusagen schauen kann, aus der Perspektive einer 13-Jährigen. Und so gesehen ist sie dann quasi vielleicht vermeintlich so ein Alter ego von mir dann auch, in dieser Zeit sich umzuschauen, sprich sie macht eigentlich ja das Gleiche, was ich sozusagen mit ihr eigentlich mache.
Wellinski: Also eine Regisseurin ihres Alltags letztlich.
Wollner: Ganz genau, ja.
Wellinski: Diese spannende Zeit, von der Sie sprechen, Wien oder Wiener Vorstadtleben, Ende der 50er-Jahre, also nach dem Zweiten Weltkrieg … Sie sagen, eine Zeit zu erkunden. Das Spannende ist ja, dass die gesellschaftlichen Phänomene dieser Zeit rein theoretisch zunächst mal außen bleiben, weil wir wirklich ja immer in diesem Haus sind. Aber die Menschen sind Teil dieser Gesellschaft, das heißt, sie tragen diese Probleme mit sich. Und wenn der Opa von der tollen Zeit bei der Wehrmacht spricht und von den schlimmen Amis, erzeugen Sie ja auch so einen gewissen Blick auf die Tabus in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. War das auch Ihre Absicht?
Erinnerungsfetzen und Familiengeschichten
Wollner: Das war nicht primär meine Absicht, quasi jetzt den Versuch, ein Zeitdokument zu erzeugen. Das wäre natürlich … Ich glaube, das kann nur scheitern jetzt aus der Perspektive, wie ich herangegangen bin. Aber was mich interessiert hat, war durchaus, mit diesen Klischees diese Bilder, die wir aus der Familie selber kennen, die Leute wiedergeben, die Erinnerungen werden, die eigene Erinnerungen werden, eben der Onkel oder, ein bisschen älter, der Großvater, der aus dieser Zeit erzählt und von den Russen erzählt und von den Amis und wem man sich nähergefühlt hat …
Und da gibt es ja diese Klischees, die sich eigentlich durchaus halten und in Familien immer wieder vorkommen, die so eine eigene, kollektive Narration werden. Und mich hat mehr das interessiert tatsächlich, diese Fetzen, die man dabei aufgreift, dieses … auch nie komplett die Geschichte zu bekommen, weil es ja etwas war natürlich, worüber man lange nicht gesprochen hat, jetzt gerade in Österreich, da hat man sich erst später dem Opferstatus entzogen und das erst infrage gestellt.
Das ist glaube ich zu der Zeit, in der jetzt diese Figuren spielen, da spielt das ja noch keine Rolle. Das heißt, was mich interessiert hat, war eher so ein … dieser pragmatische Blick mit all seinen Vorurteilen und Klischees aber, und was kann daraus werden und wo bewegt sich das hin.
Vom Herantasten an Geheimnisse
Wellinski: Also auch die Frage, ob die Familie letztendlich der erste Ort der Geheimnisse ist, die ein Mädchen, in dem Fall ein 13-jähriges Mädchen erkundet. Also Herantasten an Geheimnisse.
Wollner: Ja, genau, ein Herantasten an Geheimnisse und gleichermaßen ein Herantasten an Narration. Mein Kernthema war auf eine Weise Erinnerung und wie gehen wir damit um? Eine sehr persönliche Frage, welche meiner Erinnerungen sind tatsächlich aus meiner Autorenfeder, sind tatsächlich mein Blick? Welche sind beeinflusst von Erzählungen meiner Eltern, meiner Familie, von Fotos, die ich sehe?
Und das ist halt eine … Oder ich fand genau dieses Phänomen spannend, dieses … eine Erinnerung, die ja immer erst im Nachhinein natürlich eine Narration bekommt. Und das war das, was ich auch in diesem Film versucht habe. Und das geht natürlich einher mit Erinnerungen, die wir erzählt bekommen aus eben zum Beispiel einer Zeit, in der wir noch nicht existiert haben.
Von eigenen und geliehenen Erinnerungen
Wellinski: Also kann man da auch von Erinnerungskunst sprechen? Sich zu erinnern scheint ja auch ein künstlerischer Akt zu sein, weil es ja da wirklich, ja, um diesen Gegensatz, Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit, was ist das … Oder rekonstruiert man das nicht richtig? Ich meine, Johanna erinnert sich an einen Tag, wo sie fast ertrunken wäre. Aber letztendlich ist es ja nur ein Bild von einem Karpfen unter Wasser. Und selbst dieses Bild kann de facto ausgedacht sein.
Wollner: Das ist ein Teil des Films, der quasi autobiografisch ist, das ist jetzt eine Erinnerung von mir, die ich meiner Protagonistin geborgt habe, sage ich mal, um mich dem zu nähern. Und genau diese Frage hatte ich darin.
Wenn ich selber erinnere, habe ich kleine Bilder vor Augen, die komischerweise meistens irgendwie aus einer dritten Person dargestellt sind. Und dann wechselt sich das aber auch immer wieder ab. Und ich habe versucht, anhand dieses Beispiels zu ergründen: Bin dann immer noch ich der Autor in dem Moment? Oder zeugt das schon davon, dass ich nicht der Autor dieser Erinnerung bin und mich daran nicht erinnern konnte und sie beeinflusst wurde von einem Außen? Oder wo spielt das eine Rolle?
Wellinski: Ist denn dahingehend auch die Familie als solches oder die Erinnerung an unsere Familien – weil ich glaube, das kann man in dem Fall aus dem Film auch herausziehen – auch eine Art von Konstruktion? Während ich "Das unmögliche Bild" sah, musste ich an einen Ausspruch des französischen Regisseurs Jean-Luc Godard denken, der mal erzählt hat, dass Fotografien, vor allem Familienfotografien eingerahmte Lügen sind letztendlich. Weil, da stehen alle um den Weihnachtsbaum herum und lächeln. Aber die Backpfeife vom Vater an den Sohn danach, die sieht man da nicht, oder das Geschrei der Mutter davor, die sieht man da nicht. Also im Prinzip Rekonstruktion einer Familie, die es nie gab.
Den Amateuraufnahmen nachempfungen
Wollner: Ja, absolut. Ja, das … Also auf jeden Fall. Genau das war auch der Versuch, hinter so einen Moment zu gehen in Fotos. Ich habe einen Film gemacht mit zwei befreundeten Regisseurinnen, wo wir Dias aus den 40ern genommen haben und sie animiert haben. Das war tatsächlich eine Familiengeschichte von den 40ern bis in die 80er, wo man ein Paar sehen konnte. Und es war genau das Gefühl, das in einem aufsteigt, nämlich das man auch hat, wenn man durch sein Fotoalbum blättert oder durch das Fotoalbum der Familie.
Es sind ja nur diese Auszüge, die erinnernswerten Momente sozusagen, die ausgestellt werden, wie man sich als Person und andere als Personen gerne sehen möchte. Und das dazwischen bleibt ja irgendwo in den Erzählungen quasi dann auch verloren und verborgen, weil ja die Erzählungen in ihrer Narration ja auch etwas Ähnliches bekommen, dass sie so eine Albumhaftigkeit bekommen, dass nur das an der Oberfläche bleibt. Und was passiert jetzt sozusagen, wenn wir da reingehen und uns da umsehen?
Wellinski: Das Interessante an dem Film ist, dass die Komplexität, über die wir gerade sprechen, sich auf den ersten Blick ja gar nicht so aufdrängt. Denn dieser Film, der gehalten ist wie ein Amateurfilm, wie Found Footage, man findet plötzlich einen Super-8-Film im Keller und guckt sich den an, der hat ja zunächst auch etwas Unschuldiges. Man guckt darauf, dann geht sie mit der Kamera rum, beobachtet die Leute am Tisch, Weihnachten, das wechselt sich auch immer wieder ab. Man muss sich wirklich dreimal selber fragen, ob das nicht wirklich gefunden ist.
Also die Authentizität, die dadurch erzeugt wird, wahrscheinlich auch weil Sie auf Film gedreht haben zusammen mit Ihrem Kameramann Timm Kröger … Vielleicht können Sie erzählen, was Ihnen an der Visualität des Films wichtig war. Weil er ja auch so haptisch ist, man kann ihn ja fast schon anfassen. Und wenn man mir nicht gesagt hätte, dass das ausgedacht ist … Natürlich gibt es Zwischentitel und Off-Kommentar, das sind auch so Momente, die einen darauf stoßen, aber im Prinzip sehe ich dort Amateurmaterial von 1957.
Wollner: Das ist ein sehr großes Kompliment tatsächlich. Das ist natürlich … Ja.
Wellinski: Aber es war auch eine Frage, nicht nur ein Kompliment!
Wollner: Ja, ja, ich weiß, genau! Aber die Herangehensweise war schon … Wir haben einfach Tonnen Material aus den 50ern und 60ern uns angeguckt, da gab es einen ganzen Fundus von einfach Home-Videos. Wie geht man damit um? Man kennt das ja auch, wie stellt man das auf, wo stellt sich wer auf, diese Inszenierung, das fand ich mal interessant.
Aus dem Blickwinkel einem kleinen Mädchens
Das heißt, wir haben schon versucht, uns da dem anzunähern, haben aber auch bald gemerkt, dass durch die Bedingungen, dass Johanna ständig quasi auch sitzen musste oder da in der Nähe war, dass wir das eigentliche Konzept, das noch viel strenger gehalten war, ein bisschen auflockern müssen, dass wir sagen, okay, alleine durch den Aspekt, dass wir so viel Material haben, dass wir ihr zuschreiben, es wäre plausibel, so viel Material zu haben, in einer Zeit, um wirklich auf alles draufzuhalten, ist natürlich ein Schritt in die Fiktion, den ich mir dann am Anfang bereits eigentlich erlaubt habe, weil ich dachte: Sonst komme ich gar nicht dorthin, wo ich hinmöchte. Genau, und das war natürlich schon der Versuch, das so amateurhaft wie möglich zu halten, aber auch der Versuch, den Blick einer 13-Jährigen nachzuzeichnen sozusagen.
Mein Kameramann Timm Kröger, muss man dazu sagen, ist zwei Meter groß und hat sozusagen versucht, sich in dieses kleine, zierliche 13-jährige Mädchen hineinzuversetzen, also das war Fiktion in vielerlei Hinsicht, nicht nur in der, dass wir das nachstellen. Uns war aber immer klar, dass das eigentlich nicht funktionieren kann. Dass wir nicht authentisches Material aus dieser Zeit herstellen können. Und das alleine war aber dann so, dass wir dachten … Oder ich dachte, dann wird etwas Neues entstehen, es wird irgendetwas anderes entstehen.
Ich war sehr erstaunt über dann tatsächlich Rückmeldungen, die wir vom Publikum bekommen haben, oft meist natürlich ältere Generationen, die meinten, sie konnten das nicht auseinanderhalten und sie dachten halt tatsächlich, es wäre Footage. Was für uns gar nicht möglich wäre! In Österreich ist das glaube ich auch weniger so, weil in Österreich die Schauspieler ein bisschen bekannter sind als jetzt hier, aber … Ja, das finde ich wunderschön, aber es war nicht Absicht sozusagen zu täuschen. Es war der Versuch, so nahe wie möglich an etwas in der Haptik ranzukommen, mit dem Wissen, dass es nicht ganz aufgehen wird.
Erinnerung, das kann auch Zukunft sein
Wellinski: Wenn Sie sagen, das ist auch so ein kollektives Erinnerungsmosaik, aus dem sich letztendlich der Film zusammensetzt, und da wir ja schon über die Problematik des Erinnerns gesprochen haben, wie politisch ist der Akt des Erinnerns?
Wollner: Ja, das ist eine schwierige Frage, ich weiß nicht, ob ich die beantworten kann. Weil natürlich … Zum Beispiel ein Satz, den Johanna sagt ziemlich zum Ende, ist: Die Erinnerung ist so unzuverlässig, dass es auch genauso gut die Zukunft sein kann. Dass ist so etwas, was für eine subjektive, für eine persönliche Erinnerung … Da kann ich das drunterschreiben. Ich kann das jetzt natürlich nicht unter die Nürnberger Prozesse schreiben, das heißt, ich muss einen systemischen Unterschied machen in der Erinnerung und den der Erinnerung einer Person. Also ich für mich muss das natürlich.
Wellinski: Aber wenn am Ende Johanna wirklich sagt, dass Erinnerungen so unzuverlässig sind und dass es genauso gut die Zukunft sein kann, dann blicken wir ja nie zurück, sondern immer nach vorne!
Wollner: Ja, das ist ja die Frage, genau. Inwiefern Erinnerung … Nehmen wir jetzt Erinnerung auch als etwas Fluides an, also eben das sich verändert, das sich natürlich verändert mit meiner Erfahrung? Es gibt natürlich Erinnerungen, die wir so früh schon so geformt haben, dass wir eigentlich keinen Einfluss mehr darauf haben. Aber das ist ja genau das Interessante. Das heißt, mein heutiges Ich erinnert sich anders wahrscheinlich an eine Situation als mein achtjähriges Ich. Das heißt, natürlich verändert die Zukunft diese Form von Erinnerung und verändert auf eine Weise die Narration … die vergangene Narration.
Wellinski: Nicht nur diese Gedanken regt dieser Film an. "Das unmögliche Bild" ist derzeit Teil der mittlerweile zweiten "Femmes totales"-Kinotour, ein Wanderfestival, in dem nur Filme gezeigt werden von Regisseurinnen. Die Auswahl der Filme als auch der Städte und der Kinos können Sie nachsehen auf femmes-totales.de. Sandra Wollner, vielen Dank für den Besuch!
Wollner: Ja, herzlichen Dank, dass ich dasein durfte!
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