Sanierungsstau

Lübeck und das Brückenproblem

Possehlbrücke in Lübeck
Seit Jahren schon wird an der Possehlbrücke in Lübeck gebaut. © picture alliance / Carsten Rehder / dpa
Von Johannes Kulms |
Verkehrschaos, genervte Bürger, wirtschaftliche Einbußen – Lübecks Zentrum ist nur über Brücken erreichbar. Was aber den besonderen Reiz der Stadt ausmacht, wird nun zum Problem: Die Brücken sind marode. Ein Ende der Sanierungsarbeiten ist nicht in Sicht.
Auch in Lübeck ist der Flughafen ein Sorgenkind. Denn obwohl es jüngst mal wieder einen Eigentümerwechsel gab bleibt offen, ob der kleine Airport in Blankensee nun wirklich eine Zukunft hat oder nicht.
Doch Lübecks eigentlicher "BER" liegt gleich am südlichen Rand der Altstadt. Es ist ein Bauprojekt, das vor rund drei Jahren begonnen wurde und längst fertig sein sollte. Inzwischen traut sich – ähnlich wie beim neuen Hauptstadtflughafen in Berlin – auch hier niemand mehr einen Fertigstellungstermin zu nennen. Die Possehlbrücke – ist baulich gesehen das größte Sorgenkind der Stadt.
Das 1956 errichtete Bauwerk liegt an einer der wichtigsten Verkehrsachsen der Stadt. Täglich rollen hier rund 30.000 Autofahrer über die Kanal-Trave hinweg. Normalerweise.
Denn seitdem auf der Baustelle immer neue Probleme auftauchen, sinkt nicht nur die Zahl der Autofahrer – sondern auch deren Geduld.
"Unsere Dienststelle ist halt relativ dicht an der Baustelle. Und wir müssen viel mit Autos unterwegs sein …"
Matthias Rehberg arbeitet bei den Johannitern. In der Regionalgeschäftsstelle einen knappen Kilometer von hier entfernt leitet der 47-Jährige den Bereich Rettungsdienst, Fahrdienste und Hausnotruf. Jeden Tag gehen hunderte Fahrten durch die Stadt:
"Wir sind im Behindertenfahrtdienst jeden Tag mit 25 Autos unterwegs, in der Pflege mit 20 Autos täglich unterwegs und die Autos fahren halt von früh bis spät."

30 statt 15 Minuten

Seit dem Baubeginn im März 2015 ist die Possehlbrücke nur einspurig befahrbar, eine kleine Ampel sorgt dafür, dass es immer nur in eine Richtung geht – und dann in die andere.
In der Rushhour am Morgen und am Nachmittag staut sich dadurch der Verkehr. Bis zum 500 Meter entfernten Kreisel Berliner Platz und in die Nebenstraßen schieben sich dann die Karossen, erzählt Rehberg. Da könne eine Strecke, die normalerweise 15 Minuten dauert, schnell mal 30 Minuten dauern. Klingt womöglich wenig.
Andererseits gilt auch für die Johanniter eine alte Kaufmannsweisheit, die vor allem in den Hansestädten gerne stolz hochgehalten wird: Zeit ist Geld! Auf 40.000 bis 50.000 Euro pro Jahr schätzt Rehberg den wirtschaftlichen Schaden, der der Unfallhilfe im Jahr durch die derzeitigen Baustellen in der Stadt entsteht.
"Die Fahrer werden im Stau ja einfach weiter bezahlt. Und das natürlich aus Sicht der Fahrer völlig zurecht. Der einzelne Auftraggeber möchte ja aber nicht den Stau mitbezahlen, sondern eine Leistung bezahlen. Deshalb sind wir da schon ein bisschen die leidtragende Organisation."
Dieses Leid dürfte so schnell nicht verschwinden. Denn wann und wie die Hängepartie rund um die Possehlbrücke endet, ist offen. Im schlimmsten Fall droht ein jahrelanger Baustillstand. Die Stadt Lübeck und die Baufirma haben sich gewaltig in die Haare bekommen, das Unternehmen will mehr Geld. Derzeit wird ein Schlichtungsverfahren geprüft. Ob es am Ende kommt, ist noch nicht klar.

In die Jahre gekommene Brücken

Doch selbst wenn sich über Nacht ein Wunder auftäte und die Possehlbrücke mit einem Schlag neu dastünde, wären Rehbergs Sorgen nicht verschwunden. Denn Lübecks Altstadt liegt auf einer Insel. Und die ist nur über Brücken erreichbar. Viele der Bauwerke sind in die Jahre gekommen und müssen dringend saniert werden.
"Grundsätzlich ist das `n Glück mit der geographischen Lage und dem Wasser. Ist `ne wunderschöne Stadt und letztlich muss man natürlich auch sagen, die Brücken müssen saniert werden, es nützt ja nichts. Aber wenn man nicht so tief in der Materie steckt wie wir, dann denkt man sich schon manchmal, ob man das nicht besser hätte aufeinander abstimmen können."

Genau das fragt sich auch Rüdiger Schacht, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Lübeck. Schacht kümmert sich bei der IHK um den Geschäftsbereich Standortpolitik. Und dazu gehört auch die Infrastruktur der Hansestadt.
"Bringt das Spaß, sich in Lübeck mit dem Thema zu beschäftigen?"
"Das Thema Infrastruktur generell macht Spaß. In Lübeck hält sich dieser Spaß im Moment natürlich gerade in Grenzen."
Schacht zeigt gleichzeitig Verständnis für die Verwaltung der Stadt. Er weiß, dass Lübeck mit seinen ganzen Brücken nun mal nicht um ein Sanierungsprogramm herumkommt. Jahrzehntelang sei es eben einfacher gewesen, Unterhaltungsmaßnahmen für die Bauwerke auf die lange Bank zu schieben.
"Weil Brücken ja nicht von heute auf morgen und von einem Jahr aufs nächste baufällig werden. Aber irgendwann holt es einen ein. Das ist beim privaten Hausbesitzer genauso. Der kann auch jahrelang sein Dach ungepflegt lassen, es wird `ne Zeit lang einfach dicht bleiben. Aber irgendwann ist es dann soweit, dass das Dach undicht wird. Und so ist es hier eben auch: Irgendwann ist es soweit, dass zahlreiche Brücken eben parallel nicht mehr ihren Verkehrswert haben und dann erneuert werden müssen."
Blick auf die Burgtorbrücke (vorne) und die Hubbrücke/Marstallbrücke über die Untertrave in Lübeck.
In Lücke gibt es über 200 Brücken, viele davon sind marode.© picture alliance / Carsten Rehder / dpa

Verkehrsinfarkt droht

Doch die Geduld der Lübecker Unternehmer gehe allmählich zu Ende, sagt Schacht. Handwerker, Lieferanten, Geschäftsinhaber und natürlich viele weitere Pendler verlieren viel Zeit durch die Staus. Die Baustellen müssten mehr koordiniert und die Umfahrungsmöglichkeiten verbessert werden. Vor allem müsste die Stadt aber noch mehr überlegen, wann und wo sie genau zum Hammer greift, fordert Schacht. Mehrere Brücken gleichzeitig zu sanieren könne alles noch verschlimmern – die Stadt habe nun mal ein Brückenproblem.
Direkt vor dem IHK-Gebäude droht schon das nächste Ungemach: Die vierspurige Bahnhofsbrücke – die hier nicht über Wasser, sondern über Gleise führt – muss in Kürze saniert werden.
"Eine Forderung unseres Hauses und eine Forderung der Wirtschaft ist in diesem Zusammenhang, dass diese Brücke erst angegangen wird, wenn die Possehlbrücke endgültig fertiggestellt ist. Das ist wirklich eine ganz wesentliche Forderung. Ansonsten würde der Verkehr in Lübeck endgültig zusammenbrechen."
Die Bahnhofsbrücke ist nicht das einzige Sanierungsprojekt in der Schwebe. Auch die Rehderbrücke und die Hüxtertorbrücke – zwei Bauwerke, die von der Altstadtinsel in östliche Richtung verlaufen - sind baufällig.

"Wie im Mittelalter"

An der Untertrave haben die Bauarbeiten vergangen August begonnen. Die Straße führt direkt am Wasser entlang und soll neu gestaltet werden. Für Rad- und Autofahrer bedeutet das: Sie können die Untertrave nur noch stadtauswärts nutzen. Ireene Sonneburg hat sich an den Anblick des aufgerissenen Asphalts längst gewöhnt.
In den 70er-Jahren kam sie nach Deutschland, seit drei Jahren lebt Sonneburg in Lübeck. Die Rentnerin ist überzeugt: In ihrer alten finnischen Heimat würde eine Stadt mit einem derartigen Rückstand beim Thema Infrastruktur zügiger arbeiten.
"Hier ist es ja, wie im Mittealter, nä? Alles muss erst kaputt gehen, bevor es repariert wird. Die Technik ist etwas weiter in Skandinavien. Aber passt ja auch zu Lübeck!"
Für Wolfgang Seitz ist die Baustelle mehr als nur eine Geduldsprobe. Er betreibt an der Untertrave ein Bootsausrüstungsgeschäft – genau im Bereich der Baustelle.

"Richtig sauer bin ich nicht, man kann nichts ändern. Also, wir hoffen, dass diese Baumaßnahmen tatsächlich ein positives bringen für unsere Stadt, aber man weiß auch, dass es über anderthalb Jahre dauert. Und deswegen haben wir durchaus Geschäftseinbußen zu verbuchen."
Rund ein Drittel seiner Kundschaft bliebe seit der Baustelleneröffnung aus, weil es keine Parkplätze mehr vor dem Geschäft gebe. Seitz hofft darauf, dass der neu gewählte Bürgermeister Jan Lindenau Impulse setzen kann. Doch insgesamt hält sich sein Optimismus in Grenzen.
"Es ist typisch für Lübeck. Alles, was man versucht, anzuschieben, wird immer wieder von der Politik gebremst."
Rund anderthalb Kilometer von der Baustelle an der Untertrave sitzt eine Frau in einem Gebäude, an dessen Fassade der Efeu gewaltig wuchert. Seit einem halben Jahr ist Joanna Glogau neue Lübecker Bausenatorin.
Warnschilder an der Possehlbrücke in Lübeck
Kein Druchkommen. An der Possehlbrücke in Lübeck wird gebaut.© picture alliance / Carsten Rehder / dpa

Eine Frage der Priorität

Einer Partei gehört die Architektin nicht an. In Glogaus Büro hängt ein großes Foto an der Wand. Es zeigt die Lübecker Altstadtinsel aus der Vogelperspektive. 30 Jahre ist es her, dass die UNESCO den mittelalterlichen Kern zum Welterbe erklärte. Doch Lübecks Zentrum ist nun mal nur über Brücken erreichbar.
"Das heißt, wir sind hier auf das Planen im Bestand angewiesen, wir können hier nicht mit einem großen Wurf kommen und sozusagen bestimmte infrastrukturelle Schwierigkeiten durch spektakuläre Lösungen lösen. Sondern wir müssen natürlich den Bestand berücksichtigen."
Die Hansestadt stehe symptomatisch für die Bundesrepublik, wo lange nicht in Infrastruktur investiert wurde, sagt Glogau. Am Ende sei es immer eine Frage der Priorität – und Brückenbaumaßnahmen seien nun mal teuer. Die Stadt stünde dann vor der Wahl …
"… führe ich gerade eine Sanierung des Brandschutzes an einer Schule durch oder investiere ich in die Kappensanierung einer Brücke? Dann fällt häufig zugunsten der Schulen die Entscheidung oder zugunsten eines anderen Projektes. Weil natürlich die Brückenbaumaßnahme erst einmal vielleicht nicht als die vordringlichste erscheint."
Am meisten Kopfzerbrechen bereitet ihr weiterhin die Possehlbrücke südlich der Altstadt. Die Zuspitzung führt Glogau vor allem auf die Probleme mit dem Untergrund zurück. Nun hofft sie auf eine erfolgreiche Schlichtung und eine Beschleunigung der Arbeiten. Auch wenn jedes Sanierungsprojekt anders sei, ließe das Gezerre um die Possehlbrücke Schlüsse zu. Für künftige Vorhaben sei wichtig…
"… dass hier möglichst wenig Risiken drin enthalten sind und möglichst wenig Interpretationsspielräume nachher in der vertraglichen Auslegung möglich sind. Denn wir stellen fest, dass die Bereitschaft, die Interpretationsspielräume auszuschöpfen auch seitens der Unternehmen vielleicht etwas zunimmt."

Schuldenberg von rund 1,5 Milliarden Euro

Lübeck sitzt auf einem Schuldenberg von rund 1,5 Milliarden Euro. Dass nun viele Sanierungsprojekte ins Rollen gebracht werden, hängt auch mit den Fördergeldern von Bund und Land zusammen. Doch diese Gelder sind an Fristen geknüpft. Z.B. bei der Sanierung der Bahnhofsbrücke: Nur wenn der Baubeginn noch 2019 erfolgt, kann die Stadt Bundesgelder in Höhe von 5,5 Millionen Euro nutzen. Doch ob die Possehlbrücke bis dahin fertig ist, ist äußerst fraglich.
Lübecks parteilose Bausenatorin hofft darauf, dass auch danach weiter Fördergelder fließen. Zudem wird geprüft, ob die Bahnhofsbrücke noch durch zusätzliche Investitionen zumindest für ein paar Jahr ertüchtigt und die Stadt damit Zeit gewinnen kann. Doch sei angesichts aller anstehenden Vorhaben auch eines klar:
"Die Vorstellung, wir sind mit der einen Baumaßnahme fertig und dann werden wir nie wieder bauen in dieser Stadt – die lässt sich nicht halten."

"Der Rückstau ist irgendwo immer"

25 Buslinien- und Fährlinien zählt der Lübecker Stadtverkehr. Koordiniert werden sie aus der Betriebsleitstelle im Lübecker Norden. Magnus Temer arbeitet hier seit 20 Jahren. Und ist besonders dann gefordert, wenn irgendwo plötzlich eine Umleitung nötig ist.
"Das geht von null auf hundert manchmal. Und manchmal ist auch mal `ne Stunde, wo es nur Alltagsgeschäfte sind, Wagen defekt, kann aber auch schnell mal umschlagen, wenn draußen irgendwo `n Unfall ist."
Zwei Buslinien werden wegen der Brückenbaustellen derzeit umgeleitet. Andererseits sind solche und kurzfristige Störungen nichts neues, sagt Temer. Was auch mit Lübecks besonderer Geografie zu tun habe.
"Eigentlich ist das in Lübeck immer schon so gewesen. Lübeck ist so aufgebaut: Wenn an einer Stelle irgendwas ist, das pflanzt sich durchs gesamte Stadtgebiet durch. Weil Sie keine Möglichkeiten haben, frühzeitig auszuweichen und irgendwo anders zu fahren. Der Rückstau ist irgendwo immer. Eine Brücke fällt aus – und schon ist der Laden dann auch an anderen Ecken dicht."
Ansonsten gebe es natürlich in bestimmten Fällen immer noch ein anderes Verkehrsmittel, das aus Temers Sicht in Frage kommt. Sofern das Wetter gut ist: das Fahrrad.
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